Braucht die Gesellschaft eine Sextherapie?

Im Rahmen eines Interviews zu unserem Film „Touch Me Not“ wurden Grit und mir neulich sehr interessante Fragen gestellt. Das Interview wurde nicht in voller Länge veröffentlicht, aber ich möchte die Gelegenheit nutzen, sie hier zu publizieren. Viel Spaß beim Lesen!

Braucht die Gesellschaft Sextherapie?

Chris: Ich finde den Begriff der Therapie in diesem Zusammenhang nicht passend, denn er weckt Assoziationen zu Defiziten die repariert werden müssten und ist negativ besetzt. Was aber wichtig ist, ist dass wir als Gesellschaft offener und toleranter gegenüber der Vielfalt der Sexualität werden, auch in ihren devianten Spielarten.

Grit: Natürliche Begegnung mit sich selbst und die Kommunikation mit meinem Partner egal auf welcher Ebene, sind für mich in der Partnerschaft immer ganz wichtig gewesen. Eine Gesellschaft, die sich das als Anspruch stellt, trägt zu mehr Mitmenschlichkeit bei.

Warum lohnt es sich seine eigene Sexualität zu erkunden?

Grit: Die eigene Spannbreite meines sexuellen Ausdrucks und meiner Erfahrung haben mir sehr viel über die Art und die Tiefe meines Wesens auch im Annehmen und der Tiefe der Verbindung zu meinem Partner gezeigt.

Chris: Die eigene körperliche Wahrnehmung gehört zum Kern jeder Persönlichkeit. Wir sind alle körperliche Wesen. Eine erfüllte Sexualität ist dementsprechend eins der Grundbedürfnisse des Menschen, so wie Essen und Sicherheit. Auf der anderen Seite ist das sexuelle Empfinden individuell sehr unterschiedlich. Also muss man erstmal seinen eigenen Körper und sein Begehren kennenlernen, um überhaupt Erfüllung erlangen zu können. Viele Menschen richten sich aber nach gesellschaftlichen Narrativen und Normen aus, statt ihre eigenen Gefühle kennenzulernen. Das führt oftmals zur Unterdrückung der eigenen Bedürfnisse und damit verbunden zu Unglück und teilweise sogar Gewalt. Diese Spirale zu durchbrechen und die Möglichkeit zu erkunden, ein selbstbestimmtes und glückliches Leben auch im Bereich der Sexualität zu finden lohnt sich für jeden Menschen.

Wie definieren wir Attraktivität?

Grit: Attraktivität hat für mich immer was sehr persönliches gehabt, sie hat sich über die Zeit auch geändert. Es war für mich immer eine Suche nach einem Partner, mit dem ich intellektuell sehr verwoben bin und der ein gewisses Charisma besitzt, dass aber von guten Absichten geprägt ist. Ein Partner mit dem man sich gut austauschen kann, ist quasi schon die „dreiviertele Miete“ der Beziehung. Mit Christian empfinde ich mich in beidem verbunden, sowohl die gemeinsame Auseinandersetzung mit unserer täglichen eigenen Beziehung, als auch mit der Begegnung unserer Umgebung.

Chris: Intime Anziehung kann auf enorm vielen Facetten basieren und was man als attraktiv empfindet, hängt von sehr vielen Faktoren ab. Ich stehe sicherlich auf andere Eigenschaften und Merkmale, als mein Nachbar, mein Postbote oder die Autorin dieses Textes. Unterm Strich kann man es niemals jedem Recht machen und allen gefallen. Was so ernüchternd klingt hat aber in Wahrheit etwas charmantes und positives: jeder Mensch hat nämlich auch Eigenschaften, die attraktiv sind und auf andere Menschen anziehend wirken. In dem man sich selbst kennenlernt und experimentiert, kann man diese „herausputzen“. Es mag vielleicht wie ein Cliché klingen, aber letzten Endes ist das genau der Grund, warum wahre Schönheit von innen kommt.
Es geht dabei nämlich nicht darum, seinen Körper zu verleugnen, sondern ganz im Gegenteil, ihn zu erkennen und anzunehmen.

Was haben wir über uns und andere durch den Film gelernt?

Grit: Für mich war es ein großer Schritt, zwischen meiner ersten Begegnung mit Adina über Skype und dem Raum, wo ich mich jetzt befinde. Eine sehr großer Erfahrungsschatz an menschlicher Verbindung und Austausch, sexueller Vielfalt, eigener kommunikativer Ausdrucksmöglichkeiten und der sehr tiefen Annahme meines Wesens seitens des Publikums haben mir es ermöglicht jetzt in diesem Leben verankert zu sein. Und ich wünsche mir von Herzen, das so eine Menschlichkeit geschaffen wird, indem jeder sich selbst erfahren kann und wir die Offenheit besitzen, diese Vielfalt zu tragen.

Chris: In erster Linie war es eine super spannende und bereichernde Erfahrung, bei einem solchen experimentellen und künstlerischen Projekt beteiligt gewesen sein. Wir haben viele tolle Menschen kennengelernt und viele intensive Beziehungen geknüpft. Durch die Arbeit mit den Tagebüchern und die Reflexion mit Adina und den anderen Protagonisten konnte ich meine Haltung zu den Themen des Films tiefer herausarbeiten und festigen. Etwas sehr wichtiges habe ich aber auch durch das Publikum und die Medienöffentlichkeit gelernt, nachdem der Film bekannt wurde: Das Thema “Intimität und Körperlichkeit“ ist enorm wichtig und berührt viele Menschen in ihrem innersten Kern. Das ist für viele oftmals nicht einfach. Gerade deswegen lohnt es sich vielleicht genauer hinzuschauen.

Was ist unser Ratschlag an Leute, die ihre Sexualität befreien wollen?

Chris: Meiner Meinung nach gibt es zwei große Kräfte, die einen daran hindern, sexuelle Freiheit zu leben: zum einen ist da die Scham und die Angst, nicht gut genug zu sein und beurteilt zu werden. Zum anderen gibt es gesellschaftliche Normen und Zwänge, die es einem schwer machen, seine Bedürfnisse und Sehnsüchte offen zu zeigen. Beide Kräfte sind schwer zu überwinden, vor allen Dingen, weil sie so tief mit unserem  Unterbewusstsein eingegraben sind. Ich glaube, der erste Schritt sollte sein, die innere Scham anzuerkennen. Erst dann kann man versuchen, über sie hinauszuwachsen, wenn man das möchte.

Grit: Follow your guts! Folge dem, wonach du dich sehnst….am besten in allen Lebensbereichen. Fühle die Freiheit, die du dir erträumst. Spüre deinen Körper!

Einen fruchtbaren Austausch mit Menschen, denen man vertraut, fand ich immer wertvoll, da das die eigenen Schamgrenzen und Zwänge, die wir durch unsere Umgebung aufgebaut haben, aufbrechen kann.

Oft stellt man im Nachhinein fest, dass die Beklemmungen und Ängste gar nicht gerechtfertigt waren.

 

Erforschung von Intimität und Sexualität: Touch me not

Alles beginnt mit einer Frage: „Gibt es eine stille, bequeme Übereinkunft, nicht darüber zu sprechen?“

„Ja!“ möchte man als Zuschauer schreien, der nicht das erste Mal mit dem Gedanken in Berührung kommt, dass auch nicht-schönheitsideal-konforme Menschen ihre Sexualität ausleben. Im gesellschaftlichen Diskurs ist die Situation wohl leider bekannt. Aber im Individuellen? Was bedeutet Sexualität? Wie kann ich mich darauf einlassen? Und plötzlich birgt die Antwort ein ungeahntes Risiko, denn: Was uns auf der Suche danach begegnet, ist unklar.

Die Berliner Morgenpost schreibt: „Der Sex-Schocker […] verlangt viel vom Zuschauer.“ Und in der faz ist zu lesen: „„Touch Me Not“ […] gehörte zu den Filmen […] deren Ansatz für mich möglicherweise dokumentarisch interessant gewesen wäre, mir im Spielfilmformat aber unangenehm war.“ Der Film hat eine einfache Antwort darauf: „Jede Emotion ist willkommen.“

„Touch me not“, Film der rumänischen Regisseurin Adina Pintilie, gewann auf der diesjährigen Berline den Goldenen Bären. Es geht um die Erforschung von Initimität und Sexualität, einige der Schauspieler sind Menschen mit Behinderung, die übrigen kommen im Laufe des Films damit in Berührung. Das ist ein aufwühlendes Thema – besonders, wenn man bisher eher die eingangs erwähnte bequeme Übereinkunft bevorzugt hat.

Eine wichtige Transformation, die „Touch me not“ zeigt, beginnt in einer Berührungs-Therapie. Zwar wird man als Zuschauer über die genauen Umstände im Unklaren gelassen (Ein Berührungs-Workshop in einer sterilen Umgebung eines beliebigen Krankenhauses/Altersheims/Betonbaus? Wirklich?), aber hier passiert Wichtiges: Tómas‘ (Tómas Lemarquis) Ekel vor der Berührung von Christians (Christian Bayerlein) Gesicht, Großaufnahmen ungewöhnlicher Körper und die Selbstverständlichkeit ungewöhnlicher Beziehungskonstellationen und Sexualpraktiken (es gibt eine beeindruckende, intime Szene zwischen Christian und Grit (Grit Uhlemann) in einem SM-Club). Der Film traut sich all das mit einer unglaublichen Unaufgeregtheit zu zeigen, die ihresgleichen sucht. Und er gibt gleichzeitig die Möglichkeit, alle entstehenden Gefühle zu ergründen, zu verstehen und vielleicht zu transformieren. Nur vielleicht, denn „Touch me not“ bereitet lediglich die Basis, ohne eine explizite Forderung nach Toleranz zu formulieren.

Ich verlasse das Kino. Die prophezeite unangenehme Berührtheit oder Überforderung bleibt aus. Was ich gesehen habe, ist das Leben, eine Umgebung, in der jeder er selbst sein darf, die Schönheit von Sexualität und der eigenen inneren Reise. Und zum Schluss zeigt die Kamera auf den Zuschauer. „Es gibt nichts Sonderbares, wenn es um Sexualität geht.“ Dieser Satz, beinahe beiläufig erwähnt, ist doch ein guter Ausgangspunkt für diesen Augenblick, in dem nichts mehr versteckt ist.


Kinostart von Touch me not ist am 1.11.2018. Der Film ist in vielen deutschen Städten zu sehen.

Die 5 besten Arten zu kuscheln: Shane Burcaws Liebesleben im Vlog

Im Jahr 2011 begann Shane Burcaw in einem Blog auf humorvolle Weise über sein Leben mit SMA zu schreiben. Die ehrlichen und erfrischenden Geschichten fanden immer mehr Leser. Der Autor gründete daraufhin die gemeinnützige Organisation Laughing At My Nightmare (deutsch etwa: „Lachen über meinen Albtraum“), die mithilfe von Spendengeldern Equipment für Menschen mit Muskeldystrophie finanziert und eine positive Einstellung gegenüber Vielfältigkeit vermitteln will. Doch damit nicht genug: Shane Burcaw hat seine Erlebnisse bereits in mehreren Büchern veröffentlicht (u.a. „Strangers assume my girlfriend is my nurse“, deutsch etwa: „Fremde nehmen an, meine Freundin sei meine Pflegerin“). Seit Kurzem zeigt er auf Youtube Ausschnitte aus seinem Leben.

Der Vlog „Squirmy and Grubs“ konzentriert sich vor allem auf die Beziehung von Shane und Hannah. In der Kanalbeschreibung auf Youtube heißt es: „We’ve been dating for over two years, and we’ve discovered that people find our relationship to be pretty peculiar.“ (deutsch etwa: „Wir sind seit über zwei Jahren zusammen und erleben, dass Leute unsere Beziehung ziemlich merkwürdig finden.“) Grund genug für die beiden, den Zuschauern Einblicke in ihr (Liebes-) Leben zu gewähren: die 5 besten Arten zu kuscheln, gemeinsames Duschen und wie man das Beste aus gar-nicht-mal-so-barrierefreien Toiletten auf einem Europa-Trip macht. Die Offenheit, mit der die beiden diese Videos angehen, mag schon wieder eine eigene Merkwürdigkeit kreieren ;).

Die Videos sind alle auf Englisch, aber mit englischen Untertiteln fällt das Verstehen etwas leichter. Ich kann den Vlog nur allen ans Herz legen, die Beziehung und Sexualität mit Behinderung schon immer mal von einer locker-humorvollen Seite betrachten wollten! Und vielleicht gibt es ja die ein oder andere Anregung …

 

 

Aus der Komfortzone in die Komfortzone – Wenn die Kirche über Sexualität und Behinderung spricht

Dass Behinderung und Sexualität als Tabuthema behandelt wird, ist nichts Neues. Bei kirchlichen Einrichtungen vermutet man da noch viel größere Zurückhaltung, sich der Sache zu nähern. Umso erstaunlicher ist es eigentlich, dass die evangelische Landeskirche Württemberg vor einigen Tagen bei YouTube eine knapp halbstündige Talkrunde mit dem etwas vereinfachenden Titel „Tabu im Rollstuhl – Sex mit Handicap“ veröffentlicht hat. Die Sendung ist Teil der Reihe „Alpha & Omega“, die sich ab und an auch mit (vor allem für die Kirche) recht heiklen Themen wie der Ehe für alle und Nahtoderfahrungen auseinandersetzt.

Bei der Talkrunde sind neben der Moderatorin Heidrun Lieb drei Gäste anwesend: Francis Augostine, der nach einem Motorradunfall mit kognitiven und körperlichen Einschränkungen lebt, Jürgen Schaaf, Sexualpädagoge von ProFamilia und Jessica Philipps, Sexualbegleiterin für Menschen mit Behinderung. Was zunächst recht vielversprechend klingt, entpuppt sich nur langsam zu einem interessanten Gespräch. Insgesamt kann ich den Eindruck nicht abschütteln, dass das Thema vor allem als Problem aufgefasst wird und auch die Anwesenden nicht genau wissen, wie damit umzugehen ist. Das ist eigentlich erstaunlich, da es auf dem YouTube-Kanal einige Videos gibt, die sich mit Behinderung beschäftigen. Es sollte also kein vollkommenes Neuland sein. Aber wenn dann auch noch Sexualität ins Spiel kommt, werden die Karten wohl neu gemischt.

Trotzdem: Die Diskussionsteilnehmer sprechen viele wichtige Fragen an, etwa warum die Gesellschaft behinderte Menschen nicht als sexuelle Wesen wahrnimmt, welche Rolle Eltern als Pflegepersonen spielen und wie Menschen mit geistiger Behinderung vor negativen sexuellen Erfahrungen geschützt werden können. Bei all dem sticht vor allem Jessica Philipps mit ihrem großen Erfahrungsschatz hervor. Mutig und offen spricht sie die Probleme an und scheut sich – im Gegensatz zu den übrigen Gesprächspartnern – auch nicht davor, konkrete Lösungsansätze vorzustellen. Sie zeigt ein umfassendes Gesamtverständnis und spricht auch die zusätzlichen Schwierigkeiten sexueller Thematiken in kirchlichen Einrichtungen der Behindertenhilfe an. Zu einer Diskussion darüber kommt es dann leider nicht mehr. Schade, dass diese Chance verpasst wurde. Eine konstruktive Auseinandersetzung damit wäre wirklich ein neuer Ansatzpunkt gewesen.

Dafür kommt das Thema der Sexualbegleitung ausführlich zur Sprache. Was aber im gesamten Beitrag fehlt, sind positive Beispiele erfüllter Sexualität. Neben all den Problematiken sollte nicht vergessen werden, dass es viele Paare gibt, in denen die Partner mit oder ohne Behinderung Sexualität leben, ganz ohne große Dramatik, sondern als Teil des Alltags. Diese Alternative zu den vielbesprochenen Sonderwelten zu zeigen, hätte einen schönen Gegenpol zur Problematisierung gebildet.

Zum Schluss werden einige positive Entwicklungen der vergangenen Jahre beleuchtet, die Anlass zur Hoffnung auf breitere Akzeptanz und Offenheit geben: die wachsende Zahl an Beratungsangeboten, die schrittweise Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und das gesteigerte Bewusstsein über die sexuellen Bedürfnisse von allen Menschen.

#HotPersonInAWheelchair – Sexuelle Inklusion auf Twitter

Eigentlich ist der Anlass dieses bemerkenswerten Internet-Phänomens schon einige Jahre her und wäre möglicherweise gar nicht mehr der Rede wert. Da jedoch ein einzelner Tweet manchmal Berge versetzen kann, lohnt sich ein Blick darauf, was hier genau passiert ist und warum.

Im Jahr 2014 hat Ken Jennings, ein amerikanischer Quiz-Profi und Autor, folgenden Tweet gepostet:

Damals war der Aufschrei offenbar gar nicht so groß. Vor einigen Wochen allerdings entstand daraus der Hashtag #HotPersonInAWheelchair, unter dem viele User Fotos von sich im Rollstuhl veröffentlichten, oft zusammen mit positiven Botschaften.

Auch wenn der ein oder andere vielleicht etwas zögert, sich vor aller Welt selbstbewusst als attraktiven Menschen darzustellen, gibt das Phänomen einen wichtigen Hinweis auf etwas, das auch für den heutigen Protesttag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung von großer Relevanz ist: Nicht nur im Äußeren muss für Inklusion und Gerechtigkeit gekämpft werden. Ebenso wichtig ist die Einstellung der Gesellschaft zu Menschen mit Behinderung. Darauf beruht jedes Umdenken, das den Grundstein zu positiven und sichtbaren Veränderungen legen kann.

Tweets wie der von Jennings geben einen kleinen Vorgeschmack darauf, welche Hürden auf diesem Weg noch zu überwinden sind. Die Berichterstattung in den Medien (beispielsweise von der taz und bento) zeigt mal wieder das alte Problem: Solange es noch etwas besonderes ist, behinderten Menschen sexuelle Attraktivität zuzugestehen, sind solche Aktionen vonnöten. Hier spitzt sich ein gesamtgesellschaftliches Problem zu: die Auffassung davon, welche Menschen als gutaussehend zu verstehen sind. Wenn Menschen mit Merkmalen, die derzeit in der Gesellschaft als nachteilig oder gar störend empfunden werden, mehr in das öffentliche Bewusstsein und Rampenlicht rücken, ist vielleicht ein weiterer Schritt Richtung Inklusion und der Wertschätzung von Vielfalt getan. Damit Attraktivität und Behinderung nicht mehr als sich ausschließende Eigenschaften verstanden werden.

Gewinner des Goldenen Bären und Liebespaar: SWR-Portrait über Christian Bayerlein und Grit Uhlemann

Der SWR hat vor kurzem einen Beitrag über die Beziehung von Christian Bayerlein und Grit Uhlemann im Rahmen der Landesschau Rheinland-Pfalz gesendet. Der 5-minütige Bericht geht erfrischend unvoreingenommen mit dem Thema Liebe und Sexualität zwischen einem behinderten und einem nicht-behinderten Partner um.

Während vergleichbare Beiträge über behinderte Menschen und ihr Umfeld ja häufig tief in die Kiste der üblichen stereotypen Annahmen und Formulierungen („Protagonist A leidet unter Behinderung X und ist an den Rollstuhl gefesselt“) greifen, werden diese hier nicht nur vermieden, sondern auch gleich von Christian thematisiert. Dass er nicht leide, könne man ja schnell bemerken. Auch seine Freundin Grit bekräftigt das später. Christians Lebendigkeit und lebensfrohes Gemüt spielen die Hauptrolle, die Behinderung steht eher im Hintergrund.

Auch sonst ist kaum die Rede von dem, was aufgrund der Behinderung nicht geht. Relativ schnell wird stattdessen klargestellt, dass dies nicht bloß ein weiterer Beitrag auf der Inspirationsschiene ist. Der eigentlich Grund für den Bericht ist nämlich der jüngste Erfolg des Films „Touch me not“, der auf der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde und in dem Christian und Grit als Schauspieler zu sehen sind. Der Film beschäftigt sich mit Intimität, Sexualität, u.a. im Kontext von Behinderung.

Klar, dass da ganz praktische Fragen abseits der Leinwand und künstlerischen Umsetzung auftauchen. Wie sieht so eine Beziehung aus? Wie funktioniert das Sexualleben mit einem behinderten Partner? Und genau dort zeigt sich für mich eine weitere Besonderheit des SWR-Berichts. Er kehrt nicht ungefragt alle Zweifel unter den Teppich, sondern lässt Grit und Christian auch Bedenken äußern. Dass diese im nächsten Schritt mit Liebe und Kreativität überwunden werden können, müsste am Ende gar nicht mehr gesagt werden, wird es aber dennoch. Diese Botschaft dürfte also angekommen sein.

Genauso wie die Botschaft, dass das Außergewöhnliche an der Beziehung ja eher der Goldene Bär ist und nicht Christians Behinderung. Zum Schluss wird der Begriff der „Normalität“ vielleicht doch noch etwas überstrapaziert. Für viele mag eine Liebesbeziehung zu einem behinderten Partner nicht unmittelbar vorstellbar sein. Das Schlagwort des „besonderen, normalen Liebespaars“ erscheint dann dennoch eher gezwungen und einige Male zu oft betont.

Nichtsdestotrotz können sich Berichterstattungen über Menschen mit Behinderung an diesem Bericht ein Beispiel nehmen. Der Spruch „Vorbild sein, ohne den schweren Weg zu verschweigen“ kommt mir besonders im zweiten Teil in den Sinn. Schön, dass der SWR mutig genug ist, sich des Themas anzunehmen! Und schön, dass es Menschen gibt, die dafür Einblicke in ihr Leben geben und so hoffentlich auf lange Sicht mit Vorurteilen und stereotypen Vorstellungen aufräumen.

Interviews zu Behinderung und sexuellen Vorlieben

Nachdem es in den letzten Monaten um kissability ziemlich ruhig geworden ist, möchte ich einige aktuelle Links und Informationen zum Anlass nehmen, dem Blog auch thematisch wieder etwas Leben einzuhauchen.

Vor vier Jahren gab es hier die Interviewserie „Frag eine Devotine“ (Teil 1, 2, 3 und 4) mit einigen der ersten öffentlichen deutschsprachigen Interviews zum Thema Devotees bzw. Amelotatismus. Obwohl das Phänomen der sexuellen Vorliebe für Menschen mit Behinderung ja eher eine Randerscheinung ist, sind die Diskussionen zum Thema meist von sehr gespaltenen Meinungen geprägt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass einige Diskussionsteilnehmer schon Erfahrungen mit Devotees gemacht haben, die nicht in allen Fällen positiv verliefen. Andere hingegen sehen die Vorliebe gleichgestellt zu sonstigen sexuellen Interessen oder freuen sich über Kontakte zu Devotees.

In den vergangenen Monaten sind zwei Interviews zum Thema erschienen, in denen Devotinen zu Wort kommen und mit teilweise heiklen Fragen konfrontiert werden. Alle, die sich schon immer mal ausführlicher damit beschäftigen wollten, finden dort einen guten Ansatzpunkt.

Der br hat die Devotine Marie und ihren querschnittsgelähmten Freund interviewt. Veröffentlicht wurden dazu das gekürzte Interview in schriftlicher Form und ein ausführlicher Podcast, in dem es vor allem in der ersten Hälfte auch Gespräche über Sexualität, Beziehungen und Behinderung allgemein gibt.

Podcast über Sex mit Behinderung und Interview mit Marie:
https://www.br.de/puls/programm/puls-radio/im-namen-der-hose-sex-mit-behinderung100.html

Interview mit Marie (gekürzt) zum Nachlesen:
https://www.br.de/puls/themen/leben/querschnittlaehmung-behinderung-sex-devotees-100.html

Ein weiteres Interview zum Thema haben Udo und Gerald von Normalo TV im Dezember mit mir, Anna, geführt. Dabei geht es u.a. um die gesellschaftliche Wahrnehmung und Akzeptanz von Beziehungen mit einem behinderten Partner und das Coming-Out als Devotine.

Interview von Normalo TV mit Anna:

Solche Berichterstattungen lassen aufgrund der strittigen Thematik ja viel Raum zu Meinungsäußerungen. In einem zukünftigen Blogeintrag würde ich gern auf einige der häufigsten Bedenken und Reaktionen eingehen und auch über die vielen negativen Beispiele sprechen, die in den beiden hier gezeigten Interviews keine Erwähnung finden. Dafür freue ich mich über Fragen und Meinungen in den Kommentaren!

In eigener Sache – Mitautoren gesucht

Leider habe ich Kissability seit einiger Zeit inhaltlich ziemlich vernachlässigt. Und das obwohl momentan eigentlich viel los ist: ein Goldener Bär für Touch Me Not, eine weitere Aufführung der Army of Love in Polen, ein anstehender Bericht über unsere Beziehung im SWR und viele interessante Reportagen in der Presse und in den Medien. Aber: ich habe gerade faktisch keine Zeit, darüber zu schreiben.

Deswegen hier ein kleiner Aufruf: wer hat Lust, bei uns Mitautor zu sein – gesucht werden Menschen, die gut schreiben können und sich für das Thema Sexualität und Behinderung interessieren.

Ja, ich bin behindert. Aber ich liebe Sex immer noch.

Und schon wieder ein neuer Artikel zum Thema „Sexualität und Behinderung“, diesmal in der Washington Post, einer amerikanischen Tageszeitung.

„Wenn ich gewusst hätte, dass ich mit 24 Jahren eine neurologische Autoimmunerkrankung bekommen würde, hätte ich nicht gewartet bis ich 20 bin, um meine Jungfräulichkeit zu verlieren. Ich hätte früher angefangen, um mit meinem Körper das beste zu machen, solange er noch uneingeschränkt mitmacht.

Als ich noch nicht behindert war, stellten mir Männer Fragen wie: „Habe ich Dich schon mal im Traum gesehen?“ oder „Was hat Botticelli getan, nachdem er Dich gezeichnet hat?“. Kitschige Fragen, zugegeben, aber auch implizierend, dass ich ein sexuelles Wesen bin. Nachdem ich meine Behinderung hatte wurden die Fragen noch dümmer: „Bist Du ansteckend?“ oder „Kannst Du überhaupt Sex haben?“ (Diese Frage habe ich übrigens schon mehrmals beantwortet mit: Ja, aber nicht mit Dir!)

Sex kann ein Minenfeld für uns alle sein. Aber ich muss seit Jahren der Schrapnelle auf Krücken ausweichen.

Ich bin nun 49 Jahre alt und lebe über die Hälfte meines Lebens mit Myalgischer Enzephalomyelitis, oft unpassend als Chronisches Müdigkeitssyndrom bezeichnet. Meine Symptome sind unter anderem ständige Temperaturschwankungen, gefährlich niedriger Blutdruck, Schwindel, Anfälligkeit für Infekte, geschwollene Lymphknoten, extreme Empfindlichkeit gegenüber Licht und Geräuschen, häufige Übelkeit, ständige Schmerzen und quälende Müdigkeit (zu sagen ich sei müde ist wie wenn man Lungenentzündung als Erkältung bezeichnete).

An meinen besten Tagen fühle ich mich, als hätte ich Grippe. Ich hatte zwei Phasen im Rollstuhl, zwei längere Abschnitte in denen ich frei laufen konnte, aber meistens benötige ich einen Stock oder Krücken. Ich kann pro Tag etwa 1,5 bis 2 Kilometer gehen, mit Pausen wenn notwendig, aber ich bin darüber sehr dankbar. Laut Aussage des medizinischen Instituts wird etwa ein Viertel der Patienten mit meiner Krankheit ab einem gewissen Punkt bettlägerig bzw. kann das Haus nicht mehr verlassen. Ich bin froh, dass ich immer noch so erstaunlich fit bin, auch wenn ich die meiste Zeit liegend verbringen muss.

Klingt alles nicht sehr sexy, ich weiß.

Sogar ich denke mir, „Wie kann ich bei dieser Wagenladung an Symptomen guten Sex gehabt haben?“. Und wenn ich ehrlich bin, „Bitte bitte bitte kann ich eine Zeitmaschine haben und in die Zeit zurückkehren in der ich noch gesund war, oder soweit in die Zukunft, dass es eine erfolgreiche Behandlung oder Heilung gibt?“.

Leider braucht das Zeitreisen noch eine Weile. Und während namhafte Institute und Ärzte noch an einer Behandlung oder Heilung arbeiten, sind sie nur knapp vor einer Zeitreise. Sie haben herausgefunden, dass ME multi-systemisch, degenerativ und wahrscheinlich tödlich ist. Mögliche Therapien sind stehen bevor. Bis jetzt, allerdings? Null.

Das heißt, ich habe mich damit arrangiert, vor allem weil ich keine andere Wahl hatte. Sex liebe ich immer noch. Teile von mir sind behindert, aber meine Libido ist sehr stark. Ja, den überwiegenden Teil meines Sexlebens hatte ich ME. Aber ich bin sexuell aktiv geblieben und habe versucht den Bedürfnissen meines Partners und meinen Bedürfnissen Rechnung zu tragen.

Auf eine sonderbare Weise bringt mich die Behinderung meinen Partnern näher, weil wir vor Anfang an offen kommunizieren müssen. Idioten halten sowas nicht aus. (Ich hatte mehrere längere Beziehungen. (Ich bin wieder Single, weil mein Partner vor sieben Jahren gestorben ist und ich letztes Jahr eine Verlobung gelöst habe.)

Laut Statistik der USA hat eine/r von fünf Amerikaner/innen eine Behinderung. Aus eigener Erfahrung (z.B. online oder aus Selbsthilfegruppen) habe ich das Gefühl, dass viele von uns sexuell aktiv sind und Wege gefunden haben, mit der Behinderung eine erfüllte Sexualität erleben zu können.

Halten wir kurz inne und merken an, dass Behinderung ein weites Feld ist. Nicht alle von uns haben die gleichen Symptome und nicht alle von uns haben die gleichen körperlichen Voraussetzungen. Ich habe eine der oft „unsichtbar“ genannten Behinderungen – unter die auch Multiple Sklerose, Luxus, Borreliose und andere fallen – wobei eine Person sehr krank sein kann, aber normalerweise gesund aussieht. (Mehrmals pro Woche passiert es mir, dass mich Leute, die meine Krücken sehen fragen, was ich mir denn getan hätte, am Bein.)

Natürlich gibt es Menschen, deren Behinderung Sex unmöglich macht. Oder manche Menschen möchten vielleicht in bestimmten Phasen keinen Sex. Natürlich soll dieser Wunsch respektiert werden. Kein Mensch mit Behinderung soll zum Sex gezwungen werden, wenn ihr Körper nicht mitmacht. Noch sollten sie deshalb anders behandelt werden. Wenn ein Mensch mit Behinderung keinen Sex möchte oder haben kann heißt das nicht, dass er oder sie keine Liebe möchte oder braucht. Das sollte eigentlich jedem Menschen klar sein.

Zu oft suchen Nichtbehinderte Beispiele von behinderten Menschen die Hochleistungen bringen. Und viele von uns tun das auch, indem wir Karriere machen und ein aktives Sexleben haben. Aber es ist hart. Härter, als Nichtbehinderte wissen können. Allerdings werden wir als Beispiele hochgehalten, als ob man Menschen mit anderen Behinderungen tadeln wollte. „Siehst Du? Schau, was Du erreichen kannst, wenn Du es nur versuchst!“ Und das ist unfair. Jede Person mit einer Behinderung lebt sein oder ihr Leben so, wie es der Körper zulässt, innerhalb und außerhalb des Schlafzimmers.

War Sex leichter für mich, als ich noch nicht behindert war? Außer Frage. Macht es mir immer noch Spaß? Ja klar. Ich bin dankbar dafür. Besonders dann, wenn mein Partner meinen Körper versteht.

Dabei, zumindest, haben Behinderte und Nichtbehinderte womöglich mehr gemeinsam als sie wissen.

Behinderung und Sex schließen sich nicht gegenseitig aus

Ein aktueller Artikel in der englischen Zeitung „the guardian“ befasst sich mit der Thematik Sex und Behinderung aus der Sicht einer jungen Frau mit Cerebralparese, Emily Yates. Sie beschreibt zuerst, wie die Paralympics die Wahrnehmung von Sport und Behinderung zum Positiven verändert haben. Es ist nun nicht mehr allzu ungewöhnlich, herausragende Sportler vor gefüllten Hallen Medaillen gewinnen zu sehen, wobei die Sportler nur wie zufällig Prothesen tragen, im Rollstuhl sitzen, sehbehindert sind und ähnliches.

Was aber wäre, wenn es um Sex und Behinderung geht? Ist da die Bildung und die Wahrnehmung ähnlich?

Inklusive und barrierefreie Sexualerziehung gab es bis vor einiger Zeit nicht. Es ist bekannt, dass Frauen mit Behinderung dreimal so häufig sexuell missbraucht werden wie nichtbehinderte Frauen. Die bestehenden Angebote zur Sexualerziehung sind häufig nicht für Menschen mit Behinderung ausgelegt. Es gibt – wenn Überhaupt – wenige Videos mit Untertitel oder Audiodeskription, die Informationen sind häufig nicht leicht zu lesen oder zu verstehen, und die gezeigten Körper haben niemals offensichtliche Einschränkungen oder Behinderungen, was Menschen mit Behinderung noch mehr ausgrenzt oder in ihrem Körpergefühl beeinträchtigt.

Kindern und Teenagern wird häufig gesagt, sich und andere zu tolerieren. Kinder mit Behinderung werden von vielen Erwachsenen nicht unbedingt als sexuelle Wesen betrachtet und deshalb fallen die üblichen Warnungen und Strategien gar nicht vermittelt werden. Als Mensch mit Behinderung ist man dadurch doppelt verletzlich, wenn man auch physisch nicht leicht aus einer verfänglichen Situation fliehen kann.

Die junge Frau mit Cerebralparese berichtet, dass sie glücklicherweise ihre Sexualität in erfüllender Weise ausleben kann. Der Weg dorthin war allerdings sehr schwierig und sie hatte geradezu Panik vor dem ersten Mal, weil sie sich unter anderem große Gedanken dazu machte, welche Stellungen sie praktizieren konnte und wie das alles bei ihr überhaupt klappen würde. Da es an Informationen dazu mangelte, musste sie sich alleine bzw. mit vertrauten Personen darüber Gedanken machen. Sie empfindet es als schlimm, dass sie soviel Angst vor etwas haben musste, was eigentlich etwas schönes und lustvolles sein sollte.

Einige Menschen denken immer noch, dass Behinderte nicht sexy sein können oder – noch schlimmer – dass Sex mit Behinderten falsch sei. Emily Yates sieht, dass sich die Dinge ändern, und sie sieht sich selbst als einen Teil davon. Sie arbeitet mittlerweile unter anderem als Autorin für Reiseführer und Online Reiseplattformen, oder auch für britische Online-Projekte zum Thema „Liebe und Sexualität“.

Sie plädiert für mehr Sexualerziehung an Schulen, vor allem auch für Kinder und Jugendliche mit Behinderung. Eltern behinderter Kinder können diesbezüglich ebenfalls eine wichtige Rolle spielen und ihre Kinder unterstützen. Menschen mit Behinderung, die in der Öffentlichkeit stehen, können Rollenmodelle sein und die Wahrnehmung in der Bevölkerung hinsichtlich „Sexualität und Behinderung“ verändern.

Obwohl ihre Arbeit in erster Linie mit ihrer Behinderung zu tun hat betont sie, dass sie darüber hinaus eine ganz normale junge Frau ist, mit den gleichen Hobbies, gefärbten Haaren, etc. – sie hofft, dass andere Menschen nicht nur ihren Rollstuhl sehen, sondern die Person darin. Emily Yates hat gelernt, dass sich Sexualität und Behinderung nicht ausschließen, und sie liebt den Weg, der damit verbunden ist.

(Für links zu den angesprochenen Reiseführern, Online-Portalen und Online-Projekten bitte einfach den Original-Artikel hier aufrufen. Alle links sind nur in englischer Sprache verfügbar.)