Archiv der Kategorie: Sexualassistenz

Braucht die Gesellschaft Sextherapie?

Nach einiger Zeit der Pause erscheint endlich mal wieder ein neuer Blog-Post auf Kissability! Der Text entstand aus einem Interview, was im Rahmen eines Artikels in der Edition F zu “Touch Me Not“ geführt wurde. Leider sind unsere Beiträge nur zum Teil in den dortigen Artikel eingeflossen, aber ich nutze die Gelegenheit, das Original hier zu veröffentlichen 🙂

Braucht die Gesellschaft Sextherapie?

Chris: Ich finde den Begriff der Therapie in diesem Zusammenhang nicht passend, denn er weckt Assoziationen zu Defiziten die repariert werden müssten und ist negativ besetzt. Was aber wichtig ist, ist dass wir als Gesellschaft offener und toleranter gegenüber der Vielfalt der Sexualität werden, auch in ihren devianten Spielarten.

Grit: Natürliche Begegnung mit sich selbst und die Kommunikation mit meinem Partner egal auf welcher Ebene, sind für mich in der Partnerschaft immer ganz wichtig gewesen. Eine Gesellschaft, die sich das als Anspruch stellt, trägt zu mehr Mitmenschlichkeit bei.

Warum lohnt es sich seine eigene Sexualität zu erkunden?

Grit: Die eigene Spannbreite meines sexuellen Ausdrucks und meiner Erfahrung haben mir sehr viel über die Art und die Tiefe meines Wesens auch im Annehmen und der Tiefe der Verbindung zu meinem Partner gezeigt.

Chris: Die eigene körperliche Wahrnehmung gehört zum Kern jeder Persönlichkeit. Wir sind alle körperliche Wesen. Eine erfüllte Sexualität ist dementsprechend eins der Grundbedürfnisse des Menschen, so wie Essen und Sicherheit. Auf der anderen Seite ist das sexuelle Empfinden individuell sehr unterschiedlich. Also muss man erstmal seinen eigenen Körper und sein Begehren kennenlernen, um überhaupt Erfüllung erlangen zu können. Viele Menschen richten sich aber nach gesellschaftlichen Narrativen und Normen aus, statt ihre eigenen Gefühle kennenzulernen. Das führt oftmals zur Unterdrückung der eigenen Bedürfnisse und damit verbunden zu Unglück und teilweise sogar Gewalt. Diese Spirale zu durchbrechen und die Möglichkeit zu erkunden, ein selbstbestimmtes und glückliches Leben auch im Bereich der Sexualität zu finden lohnt sich für jeden Menschen.

Wie definieren wir Attraktivität?

Grit: Attraktivität hat für mich immer was sehr persönliches gehabt, sie hat sich über die Zeit auch geändert. Es war für mich immer eine Suche nach einem Partner, mit dem ich intellektuell sehr verwoben bin und der ein gewisses Charisma besitzt, dass aber von guten Absichten geprägt ist. Ein Partner mit dem man sich gut austauschen kann, ist quasi schon die „dreiviertele Miete“ der Beziehung. Mit Christian empfinde ich mich in beidem verbunden, sowohl die gemeinsame Auseinandersetzung mit unserer täglichen eigenen Beziehung, als auch mit der Begegnung unserer Umgebung.

Chris: Intime Anziehung kann auf enorm vielen Facetten basieren und was man als attraktiv empfindet, hängt von sehr vielen Faktoren ab. Ich stehe sicherlich auf andere Eigenschaften und Merkmale, als mein Nachbar, mein Postbote oder die Autorin dieses Textes. Unterm Strich kann man es niemals jedem Recht machen und allen gefallen. Was so ernüchternd klingt hat aber in Wahrheit etwas charmantes und positives: jeder Mensch hat nämlich auch Eigenschaften, die attraktiv sind und auf andere Menschen anziehend wirken. In dem man sich selbst kennenlernt und experimentiert, kann man diese „herausputzen“. Es mag vielleicht wie ein Cliché klingen, aber letzten Endes ist das genau der Grund, warum wahre Schönheit von innen kommt.

Es geht dabei nämlich nicht darum, seinen Körper zu verleugnen, sondern ganz im Gegenteil, ihn zu erkennen und anzunehmen.

Was haben wir über uns und andere durch den Film (Touch Me Not) gelernt?

Grit: Für mich war es ein großer Schritt, zwischen meiner ersten Begegnung mit Adina über Skype und dem Raum, wo ich mich jetzt befinde. Eine sehr großer Erfahrungsschatz an menschlicher Verbindung und Austausch, sexueller Vielfalt, eigener kommunikativer Ausdrucksmöglichkeiten und der sehr tiefen Annahme meines Wesens seitens des Publikums haben mir es ermöglicht jetzt in diesem Leben verankert zu sein. Und ich wünsche mir von Herzen, das so eine Menschlichkeit geschaffen wird, indem jeder sich selbst erfahren kann und wir die Offenheit besitzen, diese Vielfalt zu tragen.

Chris: In erster Linie war es eine super spannende und bereichernde Erfahrung, bei einem solchen experimentellen und künstlerischen Projekt beteiligt gewesen sein. Wir haben viele tolle Menschen kennengelernt und viele intensive Beziehungen geknüpft. Durch die Arbeit mit den Tagebüchern und die Reflexion mit Adina und den anderen Protagonisten konnte ich meine Haltung zu den Themen des Films tiefer herausarbeiten und festigen. Etwas sehr wichtiges habe ich aber auch durch das Publikum und die Medienöffentlichkeit gelernt, nachdem der Film bekannt wurde: Das Thema “Intimität und Körperlichkeit“ ist enorm wichtig und berührt viele Menschen in ihrem innersten Kern. Das ist für viele oftmals nicht einfach. Gerade deswegen lohnt es sich vielleicht genauer hinzuschauen.

Was ist unser Ratschlag an Leute, die ihre Sexualität befreien wollen?

Chris: Meiner Meinung nach gibt es zwei große Kräfte, die einen daran hindern, sexuelle Freiheit zu leben: zum einen ist da die Scham und die Angst, nicht gut genug zu sein und beurteilt zu werden. Zum anderen gibt es gesellschaftliche Normen und Zwänge, die es einem schwer machen, seine Bedürfnisse und Sehnsüchte offen zu zeigen. Beide Kräfte sind schwer zu überwinden, vor allen Dingen, weil sie so tief mit unserem  Unterbewusstsein eingegraben sind. Ich glaube, der erste Schritt sollte sein, die innere Scham anzuerkennen. Erst dann kann man versuchen, über sie hinauszuwachsen, wenn man das möchte.

Grit: Follow your guts! Folge dem, wonach du dich sehnst….am besten in allen Lebensbereichen. Fühle die Freiheit, die du dir erträumst. Spüre deinen Körper!

Einen fruchtbaren Austausch mit Menschen, denen man vertraut, fand ich immer wertvoll, da das die eigenen Schamgrenzen und Zwänge, die wir durch unsere Umgebung aufgebaut haben, aufbrechen kann.

Oft stellt man im Nachhinein fest, dass die Beklemmungen und Ängste gar nicht gerechtfertigt waren.

Aus der Komfortzone in die Komfortzone – Wenn die Kirche über Sexualität und Behinderung spricht

Dass Behinderung und Sexualität als Tabuthema behandelt wird, ist nichts Neues. Bei kirchlichen Einrichtungen vermutet man da noch viel größere Zurückhaltung, sich der Sache zu nähern. Umso erstaunlicher ist es eigentlich, dass die evangelische Landeskirche Württemberg vor einigen Tagen bei YouTube eine knapp halbstündige Talkrunde mit dem etwas vereinfachenden Titel „Tabu im Rollstuhl – Sex mit Handicap“ veröffentlicht hat. Die Sendung ist Teil der Reihe „Alpha & Omega“, die sich ab und an auch mit (vor allem für die Kirche) recht heiklen Themen wie der Ehe für alle und Nahtoderfahrungen auseinandersetzt.

Bei der Talkrunde sind neben der Moderatorin Heidrun Lieb drei Gäste anwesend: Francis Augostine, der nach einem Motorradunfall mit kognitiven und körperlichen Einschränkungen lebt, Jürgen Schaaf, Sexualpädagoge von ProFamilia und Jessica Philipps, Sexualbegleiterin für Menschen mit Behinderung. Was zunächst recht vielversprechend klingt, entpuppt sich nur langsam zu einem interessanten Gespräch. Insgesamt kann ich den Eindruck nicht abschütteln, dass das Thema vor allem als Problem aufgefasst wird und auch die Anwesenden nicht genau wissen, wie damit umzugehen ist. Das ist eigentlich erstaunlich, da es auf dem YouTube-Kanal einige Videos gibt, die sich mit Behinderung beschäftigen. Es sollte also kein vollkommenes Neuland sein. Aber wenn dann auch noch Sexualität ins Spiel kommt, werden die Karten wohl neu gemischt.

Trotzdem: Die Diskussionsteilnehmer sprechen viele wichtige Fragen an, etwa warum die Gesellschaft behinderte Menschen nicht als sexuelle Wesen wahrnimmt, welche Rolle Eltern als Pflegepersonen spielen und wie Menschen mit geistiger Behinderung vor negativen sexuellen Erfahrungen geschützt werden können. Bei all dem sticht vor allem Jessica Philipps mit ihrem großen Erfahrungsschatz hervor. Mutig und offen spricht sie die Probleme an und scheut sich – im Gegensatz zu den übrigen Gesprächspartnern – auch nicht davor, konkrete Lösungsansätze vorzustellen. Sie zeigt ein umfassendes Gesamtverständnis und spricht auch die zusätzlichen Schwierigkeiten sexueller Thematiken in kirchlichen Einrichtungen der Behindertenhilfe an. Zu einer Diskussion darüber kommt es dann leider nicht mehr. Schade, dass diese Chance verpasst wurde. Eine konstruktive Auseinandersetzung damit wäre wirklich ein neuer Ansatzpunkt gewesen.

Dafür kommt das Thema der Sexualbegleitung ausführlich zur Sprache. Was aber im gesamten Beitrag fehlt, sind positive Beispiele erfüllter Sexualität. Neben all den Problematiken sollte nicht vergessen werden, dass es viele Paare gibt, in denen die Partner mit oder ohne Behinderung Sexualität leben, ganz ohne große Dramatik, sondern als Teil des Alltags. Diese Alternative zu den vielbesprochenen Sonderwelten zu zeigen, hätte einen schönen Gegenpol zur Problematisierung gebildet.

Zum Schluss werden einige positive Entwicklungen der vergangenen Jahre beleuchtet, die Anlass zur Hoffnung auf breitere Akzeptanz und Offenheit geben: die wachsende Zahl an Beratungsangeboten, die schrittweise Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und das gesteigerte Bewusstsein über die sexuellen Bedürfnisse von allen Menschen.

Menschen mit Behinderung zahlen auch für Sex – was passiert wenn Kunden Kriminelle werden?

Im sogenannten nordischen Modell, werden nicht Prostituierte kriminalisiert, sondern deren Kunden, also Menschen, die für Sex zahlen. Diesem Modell, das vor allem aus Schweden bekannt ist, folgt nun auch Nordirland – und einige andere Länder überlegen, das Gleiche zu tun.

Die Diskussion über dieses Modell dreht sich meistens um die Frage, ob die Kriminalisierung der Kunden („Freier“) die Sicherheit und das Wohlbefinden der Prostituierten gefährdet. Und es gibt noch eine weitere Facette – die sexuelle Befriedigung von Menschen mit besonderen Bedürfnissen, zum Beispiel Menschen mit Behinderung.

Menschen mit Behinderung werden oft als weniger sexuell angesehen. Der gesellschaftliche Blick auf ihr Verlangen und Lustempfinden wird oft von Vorurteilen und Stigmatisierung geprägt, sowie durch mangelndes Bewusstsein. Das kann dazu führen, dass es für Menschen mit Behinderung schwieriger ist, einen geeigneten Partner oder eine geeignete Partnerin für das Ausleben ihrer Sexualität zu finden.

Die Zeitung „Disability Now“ (Behinderung Jetzt) hat im Jahr 2005 eine Umfrage zu diesem Thema durchgeführt. Darin antworteten etwa 12% der männlichen Teilnehmer, dass sie schon mal für Sex bezahlt hatten. 40% der Männer und 16% der Frauen haben zumindest schon mal darüber nachgedacht, obwohl nur 1% der Frauen diesen Schritt tatsächlich getan hat.

Die Sex-Industrie abzuschaffen und Freier weiter zu kriminalisieren steht schon lange auf der Agenda der britischen Regierung. Den Klienten wird unterstellt, den Drogenhandel zu fördern und die Verbreitung sexuell übertragbarer Krankheiten voran zu treiben. Die Zahl der Festnahmen für das Aufsuchen einer Sexarbeiterin oder eines Sexarbeiters stieg in London von 81 im Jahr 2010 auf 180 im Jahr 2013.

Dämonisierung von Freiern

Freier werden oft als Männer dargestellt, die gerne Frauen degradieren, oder auch als gewalttätige Charaktere, die Freude daran finden, Frauen zu missbrauchen. Die Forschung allerdings widerspricht diesen Aussagen überwiegend. Die Gründe, warum Freier Prostituierte aufsuchen können sehr vielfältig sein. Dazu zählen sexuelle Frustration, der Wunsch nach mehr Abwechslung in der Wahl sexueller Partner, das Verlangen nach ungewöhnlichen oder besonderen Sexualpraktiken, der Reiz, etwas Verbotenes zu tun, sich nicht auf eine Partnerschaft festlegen zu wollen, Einsamkeit, oder schlicht das Problem, keine Partnerin zu finden.

Auf einer britischen Seite, auf der Freier sexuelle Dienstleistungen bewerten können, erfährt man mehr über die Gründe, warum Männer Sex kaufen. Nur eine Bewertung war sehr abfällig und respektlos.

Die große Mehrheit der Beiträge konzentrierte sich auf den geleisteten Service und die Charakteristik der Prostituierten und war im allgemeinen sehr positiv. Etwa 30% der Kommentare behandelten speziell den „Freundinnen“-Aspekt der Frauen und noch mehr handelten von Dingen wie Augenkontakt, küssen und kuscheln. Das zeigt, dass die Männer nicht nur Sex, sondern auch Nähe und Intimität suchen. Die Rückmeldung von Klienten mit Behinderung waren besonders positiv.

Spezielle Angebote für Menschen mit Behinderung

Tuppy Owens, Sexualtherapeutin und Gründerin der TLC Stiftung, die Menschen mit Behinderung mit Prostituierten in Kontakt bringt argumentiert, dass eine Kriminalisierung der Kunden für Menschen mit Behinderung besonders tragisch wäre. Andere Freier können in den Untergrund ausweichen, wenn sie Angst haben, entdeckt zu werden. Das sei für Menschen mit Behinderung schwieriger, weil sie teilweise auch noch eine außenstehende Person benötigen, die ihnen beim Kontakt behilflich ist.

Eine Kriminalisierung würde es für manche Menschen mit Behinderung schlicht unmöglich machen, käufliche sexuelle Dienstleistungen weiterhin in Anspruch zu nehmen.

Touching Base ist eine weitere Organisation aus New South Wales in Australien, die Sexarbeiter an Menschen mit Behinderung vermittelt. Sie schult Sexarbeiter darin, im Umgang mit Behinderten informiert zu sein und das nötige Vorwissen bezüglich besonderer Bedürfnisse zu haben. Derartige Dienstleistungen wären unter einer Kriminalisierung nicht möglich.

Wir müssen anerkennen, dass Menschen mit Behinderung die gleichen Bedürfnisse nach Erfüllung ihrer sexuellen Bedürfnisse haben und dass nicht jeder dafür einen Partner im realen Leben und ohne professionellen (bezahlten) Hintergrund finden kann. Wir sollten Initiativen, die dafür eine sichere Umgebung schaffen eher fördern als verhindern.

(Übersetzung eines Artikels aus „The Conversation“)

 

Podiumsdiskussion zu Sexualität und Behinderung in Leipzig – Teil 2

Heute setzen wir nach einer kürzeren Pause die Dokumentation zur Podiumsdiskussion in Leipzig fort. Zum ersten Teil geht es hier.

Weiter geht’s:

Peter:

Es gibt da noch nen Arbeitskreis Sexualpädagogik in Leipzig und wir haben auch in den letzten Jahren Fachtagungen organisiert zum Thema Sexualität in Kitas und das waren ganz, ganz schnell die besorgten Eltern auf dem Plan. Es gibt auch Gegenwehr, das ist richtig, aber wir wollen dort immer wieder dran bleiben. Und nicht nur ich, sondern auch meine Kollegen merken, dass in diesem Bereich sich viel, viel öffnet. Und das finden wir auch toll und arbeiten sehr gerne mit den Jugendlichen und jungen Erwachsenen, weil wir erleben, dass die sehr, sehr offen sind. Aber ich geh immer nach Haus mit vielen, vielen Fragen im Kopf wie ist das realisierbar, wie ist das machbar? Es gibt nach wie vor noch viel zu viel Hürden.

Aber ich seh noch eine Frage im Publikum.

Mann aus Publikum:

Ich stelle mir einfach die Frage ob es nicht wichtiger ist, viel klarer zu kommunizieren und auch die Sachen einfach genannt werden? Auch Sexualorgane benannt werden. Behinderte Menschen haben sie, nicht behinderte Menschen haben sie und da gibts inzwischen seh ich auch Kinderbücher schon die sehr klar in der Sprache vermitteln. Und das kenn ich aus meiner Kindheit zB. noch gar nicht. Und da seh ich schon eine Bewegung die in die Richtung geht, das ganze viel offener zu halten. Da bin ich vorsichtig optimistisch, dass sich noch vielleicht was gut wendet, wenn da auch die Sexualaufklärung bisschen mit ansetzt und das vielleicht begleitet.

Ich bin grad in einer ambulanten Einrichtung, die sowohl Behinderte als auch alte Menschen pflegt. Da wurde mir das so präsent, dass das was behinderte Menschen und auch andere Menschen erleben, auch alte Menschen erleben.

Zum Beispiel wird bei einem Pärchen in unserer Einrichtung immer um den heißen Brei herum geredet: natürlich haben sie Sex, aber das wird nicht so ausgesprochen. Es wird gesagt: Ja, er ist wieder bei ihr oben. Oder: sie ist halt wieder bei ihm. Es wird nicht gesagt: die treffen sich und haben Sex. Also niemand gibt es zu. Aber alle Menschen haben dieses Bedürfnis. So wird es aber schwierig, denn gerade Menschen, die es schwierig haben, sich auszudrücken, benötigen eine klare Kommunikation.

Auf jeden Fall find ich es super, dass es Sexualassistenz gibt. Weil da ja auch die Empathie in dem Masse, dann versucht diese Bedürfnisse herauszufinden und sich drauf einzulassen.

Stefanie:

Ich arbeite mehr im Bereich Alte, Pflegebedürftige und Menschen mit dementieller Erkrankung, als mit behinderten Menschen. Aber ich glaube dass der Alten- und Pflegebereich gerade von dem Behinderten-Bereich lernt. Da hat das Thema Sexualassistenz und Sexualität eine viel längere Tradition.

Und da sind auch Menschen viel stärker in die Öffentlichkeit getreten und haben ihre Rechte eingeklagt. Und so langsam, langsam, langsam fängt der Altenpflegebereich an da anzudocken. Und ebenfalls zu verstehen, dass Menschen tatsächlich ein Bedürfnis haben nach Sexualität von der Wiege bis zur Bare haben. Und dass die Begleitumstände keine Rolle spielen. Aber dass ein Leben in der Einrichtung, wie Christian gesagt hat, lusttötend ist: Das muss man sich wirklich vorstellen. Es sind Einrichtungen wo wir zunehmend in Einzelzimmern die standardisiert eingerichtet sind mit nem 80 cm breiten Bett, was höhenzustellbar ist, damit man gut pflegen kann, aber wo weitesgehend keine Privatsphäre ist, wo keine schummrige Atmosphäre geschaffen werden kann, wo morgens um 6 gewaschen wird, egal ob man nun fit ist und aufstehen will, wo es um 7 Uhr Frühstück gibt usw. Es ist völlig alles durchgetacktet. Und da werden wir alle mal hinkommen, wenn wir Pech haben.

Das ist jetzt keine Kritik am Personal solcher großen Organisationen – und der Anspruch lässt sich nicht anders regeln – aber da ist dann auch keine Zeit mehr für Freundschaft, erst recht wenn man dann auch noch krank und pflegebedürftig ist, also wo man auch mal zu anderen hingeführt werden müsste. Da ist keine Atmosphäre, wo Sinnlichkeit, Entwicklung oder Geselligkeit gefördert wird. Wo anfassen und liebevolles Umarmen schon schnell in die Richtung kommt, das ist übergriffig, das ist sexuelle Gewalt,wo insbesondere junges Personal nicht mit umgehen kann. Wenn da ein Herr über den Flur geht und sagt „ich will ficken“, dann denkt das Personal in erster Linie daran, der muss in eine andere Einrichtung, nicht „Was steckt für ein Bedürfnis dahinter?“. Da sind wir tatsächlich nicht geschult, und da glaub ich, sind wir auf dem kleinen Weg, da bin ich ebenfalls kleinbisschen optimistisch, dass sich diese Einrichtungen mehr und mehr anschauen, was in Behinderten-Einrichtungen passiert ist. Da gibt es bereits Sexualpädagogik, da gibt es Personal, was sich mit dem Thema auseinandersetzt und auch wirklich durch wortgewaltige Mitarbeiter und Bewohner damit konfrontiert wird. Immerhin kommt in die Altenpflegeeinrichtungen jetzt so langsam eine Generation, von der wir alle sagen, sie ist sexuell aktiv gewesen und sie hat die sexuelle Revolution miterlebt. Die werden sich nicht ohne weiteres mit du-du-du und „lass dass mal sein“ abschieben lassen…

Christian:

Ich habe vielleicht 2-3 Punkte im Kopf, die angesprochen worden sind und 2 Anekdoten zum Thema Tabuisierung.

Zum einen: man merkt daran, wie sehr das Thema Sexualität allgemein und Sexualität und Behinderung speziell tabuisiert wird und wie sehr es immer noch in die negative Seite gekehrt wird. Peter hat mich daran erinnert, dass ich Behinderten-Beauftragter war, und deswegen nicht mehr im Amt bin, weil ich mich öffentlich zum Thema Sexualität und Behinderung relativ explizit geäussert hab: weil ich das wichtig empfinde, einfach als aufklärerische Arbeit und der Stadtrat in Koblenz fand, dass das zu weit ging. Und genau das zeigt aber auch, wie wichtig es ist, das so zu machen. Ich bin sehr glücklich mit der Entscheidung, zu sagen „Ok, dann halt nicht, aber das Thema ist mir so wichtig.“

Und zum anderen dann eine persönliche Anekdote: Ich hab mit 25 meine erste Freundin kennen gelernt, mit der ich eine längere Beziehung hatte. Meine Mutter ist eigentlich sehr eng mit mir, sehr, sehr vertraut und kennt mich auch sehr, meinen Körper. Aber bei der Begegnung mit meiner Freundin – wir hatten dann mal Zeit miteinander, alleine und sassen zusammen – fragte meine Mutter meine Freundin, tatsächlich, wie es denn so wäre, mit einem Mann, mit dem sie keinen Sex haben könnte. Dann hat meine Freundin erst mal angefangen zu lachen und meinte1 „Wie meinst Du das, keinen Sex haben? Natürlich haben wir Sex!“ Meine Mutter hat angefangen zu weinen und meinte „Ach, wie schön, ich wusste nicht, dass das geht.“.

Also, ja, so irre ist es teilweise, obwohl man sich so nah ist. Familiär, trotzdem sind die Scheuklappen und die Tabus so gross. Weil da eben viel Unwissen herrscht, und deswegen muss man eben daran arbeiten, dass das Thema normalisiert wird, eben nicht hinter verschlossenen Türen gehalten wird und – es muss einfach in die Gesellschaft hineingetragen werden.

Dann zur Frage eben, mit der Normalisierung der Sprache, oder ob man nicht lieber explizit reden sollte, und welche Begriffe man da jetzt verwendet: Welche Begriffe würdest Du gern verwenden wollen? Ich glaube, dass es da ein ganz breites Spektrum was man da verwenden kann. Also, z. B. medizinisch korrekt Penis zu sagen. Natürlich ist es so abtörnend, warum sagt man nicht lieber Schwanz? Die Frage ist nicht einfach nur, welche Begriffe wir verwenden, sondern wie wir mit Sexualität generell umgehen?

Peter:

Also, das ist auf jeden Fall richtig. Ich mache manchmal mit Jugendlichen meinen Spass, man sollte hochwissenschaftlich reden, so nach dem Motto „Komm‘, Liebling, lass uns heute vaginal penetrieren“. Da lachen sie alle. Das find’ ich super, und es geht dann als erstes immer darum, eine gemeinsame Sprache zu finden. Also, die Jugendlichen dürfen alle Begriffe verwenden, die dürfen ficken sagen, die dürfen Schwanz sagen, die dürfen Fotze sagen – alles, um dann gemeinsam zu gucken, wie wir sprachlich miteinander arbeiten wollen. Welche Ebene wollen wir finden? Danach schauen wir uns an, wie es ist, wenn zwei sich mögen. Wenn die dort eine andere Sprache haben, die für beide ok ist, ist es super.

Stefanie:

Ich will mal gern auf die Frage antworten. Ich finde, dass jeder für sich Worte finden soll und kann, die ihn dann auch geil machen. Wenn ich jetzt Schwanz sage, dann sage ich Schwanz, wenn ich Penis sage, sage ich Penis. Ich kann Arschficken sagen, ich kann anale Penetration sagen, ich kann AV sagen, wenn ich’s unbedingt abkürzen muss. Ich kann auch sprachliche Vielfalt illustrieren. Ich weiß ja nicht, was er gut findet. Und wenn ich jetzt eben eher Oralverkehr sage oder „Ich möchte deinen Penis mit meinen Lippen liebkosen“, dann kann ich das auch so blumig ausdrücken, dann sag ich auch „Ich möchte dir einen blasen.“.

Peter:

Genau, genau darum geht’s. Aber, Christian, du hast noch was ganz, ganz wichtiges und tolles vorhin gesagt, und zwar das Beispiel mit deiner Mutter, und das war heute auch ein Thema, wie sag ich’s meinen Eltern, dass ich halt ein sexuelles Wesen bin, in einer Gruppe, in der Diakonie, und da haben auch 2 von den Teilnehmern gesagt, ‚hmmm, ich glaube ich traue mich das nicht zu sagen, und da gibt’s viele, viele Hemmnisse. Wir versuchen denen natürlich immer Mut zu machen, das auch zuhause anzusprechen, und werden da auch nicht Müde und da auch nicht nachlassen.

Frau aus Publikum:

Ich hätte noch eine Frage, und zwar an Christian Bayerlein: welche konkreten Forderungen hätten Sie an uns und an die Gesellschaft um die jetzige Situation von Menschen mit Behinderung zu verbessern?

Christian:

Inklusion bedeutet einfach, dass die Lebensentwürfe von behinderten Menschen potentiell genau dieselben sein können, wie die Lebensentwürfe von nichtbehinderten Menschen.

Alsop dass ich die gleichen Möglichkeiten habe, dass ich genauso ins Kino gehen kann, dass ich arbeite, genauso wie jeder andere, oder auch nicht, wenn ich nicht arbeiten möchte. Oder dass ich genauso einfach ne Wohnung in der Stadt oder auf dem Land finden kann, wie jeder andere auch, dass ich einkaufen kann wie jeder andere auch, eben dass ich keine Sonderwelt beziehe, sondern dass ich gleichberechtigt lebe in der Gemeinschaft. Dazu zählt meiner Meinung nach auch Partnerschaft. Wenn alle anderen Punkte abgearbeitet sind, da ist man dann, man kann gleich leben, gleich wohnen, gleich einkaufen, oftmals ist das Thema Partnerschaft und Sexualität trotzdem das, was immer außenvor bleibt. Doch das ist eigentlich die Basis und Essenz vom menschlichen Leben, denn jeder wünscht sich Liebe und Partnerschaft und Sexualität. Für mich wär da alles andere irgendwie ein bisschen sinnlos, wenn eben dieser Bereich nicht wäre. Aber das greift ineinander, denn immer wenn ich ganz normal im Alltag auftauche, kann’s auch zu einer Partnerschaft kommen. Damit ist die Inklusion perfekt. Was man dazu tun kann, ist, einfach die Scheuklappen abnehmen, ein bisschen offener werden, bisschen auf behinderte Menschen zugehen, kreativ sein, keine – oder zumindest weniger – Ängste haben. Das sind ganz schwierige Punkte – für den einen oder anderen erscheint es vielleicht schwierig, aber ich beisse nicht – oder, ich beiss’ nur dann, wenn ich beissen soll.

Peter:

Ja, Offenheit, das ist natürlich was ganz Wichtiges.

Stefanie, wenn die Menschen zu dir kommen, deine Dienste in Anspruch nehmen, ist ihnen das klar, das es nur ne kurze vereinbarte Geschichte ist, erzählen sie dir von ihren Wünschen in der Partnerschaft? Ich glaube schon.

Stefanie:

Dadurch, dass ich fast nur in Einrichtungen gehe, und irgend jemand, wenn es zu mehreren Besuchen kommt, bestimmt, in welchen Abständen ich kommen darf, entwickelt sich mehr als nur eine Geschäftsbeziehung, es entwickelt, es entwickelt Vertrautheit, es entwickelt sich auch…ganz oft die Vorstellung von einer Beziehung, es wir auch viel fantasiert in Richtung einer Beziehung, weil ich oft tatsächlich die einzige Person bin, die außer dem Pflegepersonal kommt. Das ist so, weil die Menschen die ich besuche keinen Kontakt zur Familie haben, weil in den Einrichtungen sich Freundschaften nicht entwickeln, oder weil seit dem Einzug in die Einrichtung Nachbarn und Freunde und Familienangehörige nicht mehr kommen.

Und da verschwimmt bei dem einen oder anderen Kunden und dem Verhältnis zu mir, tatsächlich auch das, was uns verbindet – es wird oft auch nicht mehr thematisiert, dass es Prostitution ist, dass ich dafür bezahlt werde. Sondern es ist dann eher so in die Richtung, ich bin eine Geliebte, wo auch die Wünsche der letzten 4 Wochen oder der letzten 3 Monate übertragen und dann ausgelebt werden.

Das ist problematisch, ja, aber ich sage mir, solange es nichts anderes gibt und ich kann nichts anderes organisieren, ist es mir dann lieber so, als wenn es gar nichts gibt. Und von meiner Seite unterstütze ich nicht die Fantasie, dass es eine Beziehung ist, aber ich werde schon oft in die Richtung angesprochen.
Publikum: Wie ist es wenn man in die Einrichtungen kommt, wer hat denn die größere Angst, das Personal, oder die Leute um die’s geht? Also Angst, ist ein ganz großer Begriff, aber ich denke, die Einrichtungen, die so eine Kooperation eingehen, dass sind ja schon die, die offen sind, die nicht an irgendwelchen…Socken hängen, selbst da ist es schon so verklemmter, in jeden Winkel zu spüren, könnt ich mir vorstellen.

Stefanie:

ja, die Einrichtungen rufen mich oft an, wenn jemand sexuell übergrifflich geworden ist – und dann bin ich so was wie die Erlösung, sprich, man kann auf mich verweisen, man kann sagen, ‚die S. kommt in 2 Wochen, jetzt lässt du mal die Pflegerin in Ruhe und gehst nicht mehr ins Bett von der Bewohnerin’ und es ist tatsächlich auch so, dass wenn ein Mensch eine erfüllte Sexualität hat und weiß, ich bin dafür zuständig, dann kanalisiert sich das auch auf meine Person und die Unruhe oder das, was sonst mit einem passieren kann und das was andere als übergrifflich bezeichnen, fällt tatsächlich weg. Aber es stimmt, Pflegepersonal macht ein ganz grosses Fragezeichen und sagt ‚Gottogottogott, wenn der sich in dich verliebt’.
This is problematic, yes, but tell myself, as long as there is nothing else, and

Ja und?! Welche Alternative gibt’s denn? Soll man denn auf Liebe verzichten?! Doch dann lieber verliebt sein in mich, wo ich alle 4 Wochen komme. Was von Wärme und Zuneigung gegeben ist. Sage ich.

Frau aus Publikum:

Also, ich hab selber 4-5 Jahre in einer Einrichtung gearbeitet mit um die 20-Jahre alten Männern mit Autismus, und ich war immer schockiert darüber, wie der Umgang war. Also, ich war immer ziemlich offen, wär jetzt nie so was eingegangen, weil ich das getrennt habe; ich bin hier Auszubildende und das sind meine Klienten, obwohl das durchaus sehr hübsche Männer waren – aber ich habe halt dann irgendwann in einer Team -Sitzung erwähnt, dass mich jemand angefasst hat und ich halt gesagt hab ‚Nein’, weil ich das wichtig fand, dass es alle wissen. War ein Riesen Aufschrei, ich musste zur Polizei, anzeigen, versuchen, eine forensische Einweisung zu bekommen. Man hat mich wirklich zur Polizei gegängelt. Auf der Wache habe ich begonnen mit „Ich möchte eigentlich gar keine Anzeige erstatten.“ Die Anzeige wurde trotzdem aufgenommen und habe dem Bewohner das auch erzählt und mich dafür bei ihm entschuldigt. Zum Glück hat sich alles in Wohlgefallen aufgelöst. Aber es hat mich wirklich super aufgeregt, dass mich jemand wirklich zur Polizei gängeln konnte. Dass ich dann auch so angsthandelnd bin und das ganze System so ist, hat mir sehr zu denken gegeben. Für mich sehr interessant zu erfahren, wie dann damit umgegangen wird. Auch wenn sich jemand selbst befriedigt und er oder sie verletzt sich dabei, dann kommt es vor, dass in einer Teamsitzung die Reaktion ist, dann müsse er sich mal richtig wehtun, damit sie die Medikamente hoch setzen können. Solche Reaktionen erleben dann in Teamsitzungen

Ich bin fast vom Stuhl gekippt, aber ich war in der Azubi- Rolle selber sehr untergebuttert und durfte nicht ausrasten. Und mittlerweile darf ich das mindestens, aber dass es das gibt, und Schweigepflicht usw., auch seinen Freunden nicht – aber es ist krass und es ist Alltag.

Christian:

Eine echt krasse Geschichte!

Stefanie:

Gut, dass Sie das ansprechen, weil wir alle darüber überlegen können, was neben uns passiert. Manchmal ist es auch ein Stück weit Normalität, jemanden anzufassen. Und auch wenn jemand an der Brust angefasst wird, muss man doch sehen Kontext sehen und was dahinter steckt – insbesondere, ob es wirklich übergriffig ist. Also, ich denke, wenn mich jemand an der Strasse an der Brust anfassen würde, würde ich dem eine ganz andere Bedeutung beimessen. Aber wenn das in der Einrichtung ist, wo ich weiss, der Herr hat ein ganz starkes sexuelles Bedürfnis und ich weiss, er fährt auf grosse Busen ab, dann sehe ich das als ein Bedürfnis von Nähe und Körperlichkeit, aber würde keine Übergrifflichkeit oder sexuelle Gewalt darin sehen.

Frau aus Publikum:

Alleine das Wort „übergriffig“. Ich meine, jemand, den ich jede zweite Schicht waschen muss, bin ich vielleicht als Pflegepersonal irgendwie nahe gehender, als wenn mich jemand besoffen in der Bushaltestelle oder in der Disko angrapscht. Da sag ich vielleicht, „Komm, hey, verpisst dich“ und dann bin ich fertig damit. Das ist von daher etwas einfacher. Aber das was passiert, ist ja erst mal dasselbe, so eine Kurzschlussreaktion „ich grapsch die mal an“. Warum kann man das dann in einer Einrichtung, wenn es das eine Mal ist, erst einmal es als genau das abtun? Warum muss dann gleich eskaliert werden?

Christian:

Was mir immer wieder auffällt, ist das Sexualität sehr oft als etwas abzuwehrendes dargestellt wird. Also in dem Fall, dass jemand ein sexuelles Bedürfnis hat oder einen sexuellen dreht sich die ganze Diskussion nur darum, wie man man es abstellen kann. Besser wäre doch, dieses Bedürfnis als etwas sehr wertvolles, sehr menschliches zu begreifen, und Wege zu suchen, wie man das erfüllt. Aber das ist allgemein in der Gesellschaft, das es erst negativ dargestellt wird. Ich glaube dass da auch mal die traditionelle katholische Sexualmoral einfach tief in vielen Menschen sitzt und eine ganz grosse Rolle spielt. Das eben da Ängste zum Vorschein kommen, die dann auch gefühlt werden. Ja und viele, viele Menschen sehen da auch immer nur wie sie das abwehren können. Das Thema ist dann immer schnell „sexuelle Gewalt muss verhütet werden“. Das ist natürlich auch sehr wichtig und man muss sexuelle Gewalt verhindern und auch Missbrauch ist eine ganz schlimme Sache. Aber es darf nicht sein, dass das alles andere überschattet.

Peter:

Ich möchte das Thema noch mal aufgreifen, weil wenn ich als Pflegekraft oder als Assistenz eingeteilt bin, und Menschen waschen muss, weil sie’s selber nicht machen können, z.B., und mich sonst niemand anfasst, dass es dann zu sexueller Erregung kommt. Also, ich könnte mir gut vorstellen, ich hätte da immer einen Ständer. Aber wie geht eine Pflegekraft damit um? Wo bekommt sie in irer Ausbildung irgendwas mit darüber? Es sind viele Fragen, nirgends findet was statt. Ein guter Freund von mir der auch jungen Menschen als Assistent begleitet, hat mir erzählt, eine Kollegin habe den nicht mehr gewaschen, weil der immer einen Ständer hat; Da wird unter der Decke gehoben und ein bisschen gesprüht.

Mann aus Publikum:

Zunächst einmal finde ich das unverantwortlich. „Ich sprüh mal so ein bisschen“… Ich kenn das auch, na ja Gott, dann hat er eben einen Ständer, dann kann man momentan halt mal nicy waschen. Ich finde, damit muss man einfach damit leben. Man kann das nicht verhindern, kann ja nicht meine körperliche Reaktion steuern.. Persönlich kenne ich das auch: Ich krieg auch manchmal in bestimmten Situationen eine Errektion und denk so „Hm, ist vielleicht nicht so passend jetzt, na gut, dann bleib ich mal sitzen.“

Peter:

Ja, aber die spannende Frage ist ja dann, wer befriedigt mich? Dann sitz ich ja mit meiner Erregung – und jetzt?

Frau aus Publikum:

Vielleicht ist es einfach mal die Befriedigung, ich eine Erektion haben darf und der andere das sieht und denkt „Ok, das ist jetzt so. Ich wasch erst mal an der anderen Stelle, um ihn nicht weiter zu erregen.“ Ich will ja auch den Menschen pflegen und nicht diese Grenze überschreiten. Oder sollte diese Grenze nicht überschreiten, vielleicht.

Peter:

Na ja, aber wenn ich das nicht selber kann, wer macht das dann? Das ist die Frage. Also, ich bleib dann irgendwo liegen/sitzen mit meiner Erregung und werde immer unzufriedener. Das kann unter Umständen Stress verursachen – für beide Seiten. Und da gibt’s aus meiner Sicht nicht wirklich ne Lösung. Damit will ich’s auch nicht stehen lassen, mit dem Vorwurf. Nicht so zum Abschluss bringen, unsere Diskussion. Vielleicht noch etwas Schönes, was Tolles, was ihr uns mit auf den Nachhauseweg mitgeben möchtet.

Stefanie:

Ich finde solche Veranstaltungen toll. Ich wünsche mir, dass Sie alle nachhause gehen und weiter diskutieren oder die Gelegenheit nutzen, die Idee fortzuentwickeln. Also nicht bei dem stehen bleiben was wir gesagt haben. Da geht noch viel mehr. …und haben sie viel Spass beim Sex.

Christian:

Ja, wir hatten eben herausgefunden, dass es dafür keine einfache Lösung gibt. Aber ich glaube es ist auch ein gutes Credo, einfach zu sagen, manchmal gibt’s keine einfache Lösung. es ist auch gut, dass es nicht ein pauschale Lösung für alle unterschiedlichen Menschen gibt. Denn unterschiedliche Probleme gibt’s,da müssen auch die Lösungen unterschiedlich und vielfältig sein.

Eine Lösung könnte auch sein, dass jeder schaut „Was ist meine Grenze, darf jemand auch mal näher an mich ran? Wo kann ich vielleicht ein Tabu brechen, was gerade gebrochen werden muss?“ Man muss sich nicht immer an gesellschaftliche Normen halten, wenn’s im intimen Bereich, zu zweit, eine individuelle Lösung findet. Wie auch immer die aussehen mag.

Da fordere ich euch alle raus, eure Grenzen auszutesten. Wie weit wollt ihr gehen? Was wollt ihr erleben? Seid offen!

Sueddeutsche.de: „Beziehungen – eine ganz andere Lust“

Die Süddeutsche widmete sich heute (6. Juni 2015) in ihrer Wochenendausgabe dem Thema Sexualität und Behinderung. Dabei lag der Focus mal nicht wie üblich auf dem Klassiker „Sexualassistenz“, sondern der Autor widmete sich vor allem dem Thema Behinderung als Fetisch. Dazu hatte ich zu Beginn des Jahres ein sehr schönes Gespräch mit ihm. Entsprechend komme ich auch im Artikel vor. Daneben wurde auch Ilse Martin interviewt, die sich ebenfalls mit dem Thema beschäftigt. Außerdem kommt ein Paar zu Wort, bei dem sie amputiert ist und er ein so genannter „Devotee“. Alles in allem ein sehr schöner Beitrag, der sich mal aus dem Einheitsbrei der deutschen Medien hervortut.

Im Teaser des Beitrags heißt es:

Ihnen fehlt eine Hand oder ein Bein. Darf man Menschen mit Behinderung trotzdem erotisch finden? Wir haben Menschen getroffen, die genau so leben und lieben – und sich deshalb manchmal fragen: Sind wir normal?

Link zum Beitrag auf Sueddeutsche.de: „Beziehungen – eine ganz andere Lust“

Podiumsdiskussion zu Sexualität und Behinderung in Leipzig – Teil 1

Vor gut einem Monat war ich eingeladen bei der Cinématèque Leipzig, bei einer Podiumsdiskussion zum Thema Sexualität und Behinderung teilzunehmen. Zur Eröffnung der Veranstaltung wurde der Film „(K)ein besonderes Bedürfnis – a special need“ gezeigt.

Teilhabe am Leben ist ein Grundrecht aller Menschen und schließt auch das Recht auf selbstbestimmte Sexualität und damit die Realisierung der Bedürfnisse nach Nähe, Zärtlichkeit, Liebe, Sex und gelebter Partnerschaft ein – unabhängig von geistiger bzw. körperlicher Benachteiligung.
Der Dokumentarfilm „(K)ein besonderes Bedürfnis“ geht der Frage nach, ob Sex ein lebbarer Bestandteil der Inklusion ist. Der 29jährige Enea ist Autist*in, lebt in einem Heim und möchte endlich einmal Sex mit einer Frau haben. Seine besten Freund*innen Carlos und Alex begeben sich mit ihm auf eine abenteuerliche Reise durch halb Europa, um ihm seinen Traum zu erfüllen. Was als Expedition startet, an deren Ende der Abschied von Eneas „Jungfräulichkeit“ stehen sollte, entwickelt sich zu einer Reise in seine intimste Gefühlswelt und bringt die drei Freunde dazu, ihre (zunächst einseitigen und homophoben) Ansichten von Liebe, Freundschaft und Freiheit zu überdenken.
Der Film thematisiert vordergründig die sexuelle Assistenz als eine Möglichkeit, Nähe, Zärtlichkeit und Sex zu erleben, am Ende jedoch bleibt der Wunsch nach selbstbestimmter und gelebter Sexualität in einer Liebesbeziehung.

Im Anschluss gab es Podiumsdiskussion mit Stephanie Klee (diplomierte Sozialarbeiter*in, Verwaltungswirt*in und Sexarbeiter*in mit dem Schwerpunkt Sexualassistenz) und mir. Moderator war Peter Thürer, Sozialarbeiter*in und Sexualpädagog*in der AIDS-Hilfe Leipzig e.V.

Die Veranstaltung war Teil der Reihe „Mythos Freiheit: Körper“, in der sich kritisch mit dem Freiheitsbegriff in verschiedenen Kontexten auseinandergesetzt wurde.

Die Diskussion veröffentlichen ist hier als redaktionell überarbeitete, textliche Form in mehreren Teilen. Kommen wir also zum Teil 1:

Peter:

Herzlich willkommen zu unserer Podiumsdiskussion zu unserem Thema Sexualität und Behinderung. Mein Name ist Peter Thürer. Ich bin angestellt hier in Leipzig bei der Aids Hilfe als Sozialarbeiter und von Beruf Sexualpädagoge. Und neben den vielen typischen Dingen die ein Sozialarbeiter halt bei der Aids Hilfe macht – wir klären auf über HIV und andere sexuelle übertragbare Infektionen – arbeite ich auch sexualpädagogisch in Schulen und das hauptsächlich mit männlichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen an ganz verschiedenen schulischen Einrichtungen. Und auch im Förderschulbereich und Lebesshilfe oder Diakonie in diversen Werkstätten, was meinen Bezug zu dem Thema darstellt.

Aber ich hab ganz interessante Expertinnen hier an meiner Seite die meine und eure Antworten sicherlich gut beantworten können.
Zum einen, zu meiner linken Seite Stefanie Klee. Stefanie kommt aus Berlin und ist Sozialarbeiterin und Sexarbeiterin mit dem Schwerpunkt Sexualassistenz. Sie ist gründete Bundesverband Sexuelle Dienstleistungen und setzt sich für die natürlichen Rechte von Prostituierten ein. Außerdem macht sie unter anderem unter dem Dach der Deutschen Aidshilfe Fortbildungsveranstaltungen für Prostituierte.

Zu meiner rechten Seite: Christian Bayerlein. Er kommt aus Koblenz, ist freier Software und Webentwickler aber betreibt beispielsweise den Blog Kissability und auch viele Jahre war er eherenamtlicher Behindertenbeauftragter der Stadt Koblenz. Christian setzt sich mit seinem Engagement und mit seinem selbstbestimmten Ausleben seiner Sexualität besonders da für Rechte von Behinderten ein.

Beginnen möchte ich damit nochmal auf den Film einzugehn den wir grade gesehn haben. Und in Bezug zu dem: was denkt ihr beide denn von der ganzen Story? Was haltet ihr davon? Ist es realistisch? Was gabs da an Highlights und besonderen Kritikpunkten?

Christian:

Ich fand den Film sehr nett gemacht. Es war eine schöne Anekdote, eine Beschreibung eines Erlebnisses eines behinderten Menschen.natürlich konnte dabei nicht die komplette Vielfalt des Themas Sexualität und Behinderung beleuchtet werden.aber er war doch sehr beeindruckend – etwas, was ich besonders spannend fand, wardie Geschichte und um die Freundschaft der 3 Männer die im Film erzählt wurde.Freundschaft stellt eben auch Inklusion da. im Film wird gezeigt, dass die Reise für alle Beteiligten viel gebracht hat: nicht nur für den Behinderten Protagonisten, sondern auch für seine beiden Freunde. Aufgefallen sind mir natürlich auch die Szenen in Trebel, weil ich auch schon mal da war. ich kenne die Situation dort also auch, wobei ich bei einem Workshop für Körperbehinderte teilgenommen habe und empfehlen ging es um ein Wochenende für geistig behinderte Menschen. ich finde die Herangehensweise in Trebel teilweise sehr gut, teilweise habe ich aber auch meine Kritik.

Stefanie:

Mir hat der Film gut gefallen, weil er so offen Sexualität gezeigt hat. Ich glaube, das ist ein italienisches Spezifikum, wo die Kultur über Sexualität freier spricht und das haben auch die Freunde untereinander getan. es ist natürlich auch für mich ein Einzelbeispiel. Die beiden Freunde haben dem behinderten Enea verschiedene Möglichkeiten geboten, sexuelle Erfahrungen zu machen,als sie mit ihm zum Straßenstrich gefahren sind – noch in Italien – dann in ein Bordell nach Österreich und schließlich ins ISBB nach Trebel. das ist für mich schon sehr natürlicher Umgang, jemanden sein Wunsch zu erfüllen, egal wo dieser Wunsch denn hingeht. Ich war ganz beglückt, dass ich meine italienischen Freun Pia im Film gesehen habe, die die 3 Freunde beraten hat. Das fand ich ganz entzückend. Ich würde mir tatsächlich wünschen, dass es mehr möglich wird – und ich glaube, das ist wirklich eine Ausnahme, dass es Freundschaften gibt, wo so offen auch über Sexualität gesprochen wird, egal wohin die Sexualität geht.

Peter:

Ich möchte eigentlich ein großes Fragezeichen denn da machen,was an dem „speziellen Bedürfnis“/“special need“ denn so speziell ist. Das Bedürfnis nach Sexualität haben die meisten, wie viele Bedürfnisse auch. es gibt das Bedürfnis nach Essen, schlafen, Trinken und natürlich auch nach Sexualität. ich habe den Film jetzt zum 3. Mal gesehen und mir fallen immer wieder neue Aspekte auf. Ein Aspekt ist Sexualbegleitung. Deswegen die Frage an Stephanie: aktive/passive Sexualbegleitung, Prostitution – gibt es da Unterschiede? Wie siehst du das?

Stefanie:

Eigentlich bin ich gegen den Begriff der Sexualassistenz. Es ist ein Begriff, den ich zwar übernommen habe, aber nur weil er in der Gesellschaft besser aufgenommen wird, positiver bewertet wird und ich darüber auch mein Geld als Prostituierte verdiene. Ich verstehe mich als Prostituierte beziehungsweise als Sexarbeiterin und so arbeite ich auchin Einrichtungen und im Bereich, wo Menschen zum Beispiel behindert oder alt sind. Es geht um pure Sexualität und diese ist ganz vielfältig. Da haben behinderte Menschen auch gar keine anderen Wünsche, andere Vorstellungen. Ich glaube, wir sprechen von Sexualassistenz, weil die Menschen drumherum, also Angehörige, Freunde aber auch Mitarbeiter in Einrichtungen dadurch einfacher mit dem Thema umgehen. auf der anderen Seite sagt Sexualassistenz, man hilft, man ist förderlich und unterstützend und so sehe ich mich auch in meiner Arbeit. wenn ich meinen Kunden etwas Gutes tue, wir uns gemeinsam amüsieren,benötigen sie in der Regelhilfe, weil sie selber nicht ohne weiteres dazu in der Lage wären. Üblicherweise brauchen diese Menschen sogar Unterstützung bei der Kontaktaufnahme mit mir – mich im Internet zu finden, sich über meine Arbeitsbedingungen zu informieren, mich anzurufen und letzten Endes mit mir darüber zu sprechen, was bei dem gemeinsamen Termin passieren soll. das verlangt vom Umfeld teilweise relativ viel Unterstützung. Hier arbeite ich für die Rechte behinderter Menschen. Während der Begegnung ist es meine Aufgabe, nicht nur Sexualität in ihrer Vielfalt zu bieten, sondern auch ein Stück weit feinfühlig und sensibel für die Bedürfnisse des Kunden zu seinund herauszufinden, was gewünscht wird. Im Bordell – ich sage es mal so platt – da heißt es „lecken, ficken, blasen“ oder es gibt unterschiedliche sexuelle Stellungen oder Rollenspiele – oder, oder, oder… aber das ist in meinem beruflichen Kontext nicht so klar. Bei der Frage, wie komme ich zum Ausdruck, muss ich vieles ausprobieren und einfach gucken, wie es denn ankommt.

Peter:

O.k., recht vielen Dank. Christian, welche Erwartungen hättest du denn an Sexualbegleitung? Du bist ja auf Assistenz angewiesen. Welche Wünsche hättest du denn an Sexualbegleitung beziehungsweise an sexuelle Assistenz?

Christian:

Für mich steht das Thema Sexualbegleitung im Moment nicht so eine große Rolle, weil ich an einer Beziehung bin, aber in der Zeit in der ich solo war, habe ich vieles ausprobiert – von Sexualbegleitung bis Prostitution. Ich habe also schon alle Erfahrungen sammeln können. Für mich persönlich hat sich immer mehr herausgestellt, dass ich eigentlich das ganz Normale will- eine Normalisierung von Sexualität wie sie jeder andere auch will. Und wenn das „nur“ das Ausleben des Triebes sein soll – „lecken, ficken, blasen“ wie Du eben so schön gesagt hast – dann soll es eben genau das sein. Leider ist es aber so, dass man in Bordellen auf mit Diskriminierung konfrontiert wird und mit Ablehnung rechnen muss – meistens aus Unkenntnis und Unsicherheit. auf der anderen Seite kann Sexualbegleitung manchmal auch zu sehr in die Richtung „Heititeiti-Sexualität“ gehen. Es gibt Sexualbegleiterinnen, die wollen ein streicheln und liebkosen, vögeln ist aber auch schon wieder Tabu. Das ist aber nichts für mich. Wenn jemand genau das braucht uns sucht, zum Beispiel wenn man ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit hat, dann kann es gut sein. Eine Zeit lang war es das für mich auch. Ich brauchte die Sicherheit, dass es auch wirklich funktioniert und dass ich eben nicht auf Ablehnung stoße. Letzten Endes war mir dieses Setting aber zu „sanft“ und ich habe gemerkt, dass ich nicht zur Zielgruppe für Sexualbegleitung gehöre. Bezogen auf Trebel sehe ich das ähnlich. Das kann für viele Leute oder für eine gewisse Zeit sehr gut sein und immerhin wird dort ja auch mit Empowerment gearbeitet. Auf der anderen Seite sehe ich, dass auch dort wieder eine Sonderwelt aufgebaut wird. Für meinen Geschmack gibt es aber schon genug Segregation. Behinderte Menschen leben oft im Heim, gehen in die Behindertenwerkstatt etc. – jetzt auch noch etwas spezielles für Behinderte in Sachen Sexualität? Bei aller Berechtigung, diese Kritik muss sein.

Peter:

Das finde ich auch so. Sonderwelten sind immer schlecht. Es ist aber auch manchmal schwierig, so selbstbewusst und selbstbestimmt seine Rechte einzufordern. Es gibt dabei auch immer wieder Hindernisse und Hemmnisse.

Stefanie:

Ich kann noch an dich anschließen, Christian. Stichwort Normalität. Ich würde mir tatsächlich wünschen, dass es in jeder Stadt ein Bordell gibt, dass selbstverständlich alle möglichen Gäste empfängt. Auch das wäre ein Stück Normalität. Dafür müsst ihr auch noch viel kämpfen. leider ist das noch sehr wenig. Aber auch Sexualassistenz nicht sehr weit verbreitet. Es gibt vielleicht 15 Sexualassistentinnen in Deutschland. Ich kenne keinen einzigen Mann. Umgekehrt möchte ich aber auch eine Lanze brechen: es gibt sehr viele Sexarbeiterinnen und auch Bordelle, die demgegenüber aufgeschlossen sind, die auch gerne Sex mit diesem Kundenkreis machen.Oftmals fehlt es zwar noch ein Information, aber wahrscheinlich hast du es auch so gemacht, dass du am Telefon schon über deine Bedürfnisse gesprochen hast – welche Art von Achtsamkeit man dir gegenüber bringen muss und welche Art von Normalität Du möchtest. Ich würde sagen, unsere Branche ist lernfähig.

Christian:

Ja gut, ich habe es da von meiner Position vielleicht ein bisschen einfacher, weil ich sehr klar bin und weiß und auch formulieren kann, was ich mir wünsche. Was die Normalität angeht, so hängt das natürlich auch ein bisschen an den Darstellungen in den Medien. Heute Abend hatten wir bis jetzt hauptsächlich das Thema Sexualassistenz und auch in den Medien ist das sehr beliebt momentan. Es ist aber nur ein Ausschnitt aus der Thematik Sexualität und Behinderung. Für mich ist es auch nur eine Brückentechnologie, denn Ziel sollte es natürlich sein, dass behinderte Menschen ganz normal und selbstverständlich Sexualität haben wieder andere auch. Nicht behinderte Menschen haben ganz viele Möglichkeiten, ihre Sexualität zu leben und zu gestalten – sei es in einer Beziehung oder im Puff oder was auch immer – und behinderten Menschen sollten die gleichen Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Dafür ist Inklusion und das Auftauchen in der normalen Gesellschaft notwendig.

Peter:

Wo klemmt es denn? Wo sind die meisten Hindernisse, die an selbstbestimmter Sexualität hindern?

Christian:

Zum einen wären wir dann wieder beim Thema Sonderwelten. Viele behinderte Menschen leben in Einrichtungen. Und Einrichtungen sind Liebestöter. wenn ich in einer Einrichtung lebe, womöglich in einem Zweibettzimmer oder Möglichkeit zur Intimität oder Rückzug, dann verhindert das ganz oft alleine durch die Rahmenbedingungen Sexualität. Aber auch außerhalb von Einrichtungen ist es so, dass das Bild von Behinderung durch althergebrachte Klischees geprägt, durch eine medizinische, mit Defiziten assoziierte Brille. Behinderung wird automatisch geknüpft an Leid und Umstand. Das schreckt natürlich auch ab, sich damit zu beschäftigen. Eine Beziehung einzugehen erfordert aber nun mal, dass die Menschen sich zunächst einmal nähern und sich Freundschaften entwickeln. Hier gibt es die Hemmschuhe schon weit vorher, dass man sich überhaupt begegnen kann. Außerdem haben behinderte Menschen manchmal ein schlechteres Selbstbewusstsein. Die Wahrnehmung oder Erwartung, sowieso keine „abzubekommen“, ist weit verbreitet. Das hat mich im Film übrigens auch wahnsinnig gestört – dieser Satz von Lothar Sandfort, dass der behinderte Protagonist ja nicht zu hohe Ansprüche und Erwartungen haben soll. So eine Frau hätte so viele Angebote, und warum sollte gerade er denn eine solche Frau bekommen? Das ist alles andere als Empowerment. Jemand, der sowieso wenig Erfahrung in Sexualität und wenig Selbstbewusstsein hat, wird damit doch noch mehr geschwächt.

Peter:

Ich erlebe das auch in Leipzig, das sich hier sehr viel entwickelt, aber auch noch sehr viel zu tun ist, damit behinderte Menschen ganz normal im Stadtbild auftauchen, ins Kino etc. gehen können oder Menschen alltäglich bei der Arbeit oder im Alltag kennen lernen können.Stefanie, was äußern denn Menschen mit Behinderungen, die zu dir kommen – wir haben sie den Weg zu dir geschafft?

Stefanie:

Das ist genau das, was ich mir auch wünsche: dass behinderte Menschen selbstständiger sind und auch in einem Umfeld leben, in dem sie als selbstständige Wesen wahrgenommen werden. was ich aber im Moment erleben, ist, dass insbesondere Angehörige eher moralisch zum Thema Sexualität stehen,und sich Eltern zum Beispiel schwer damit tun, ihre Kinder erwachsen werden zu lassen und ihre eigenen Erfahrungen erleben zu lassen. Die Gesellschaft macht das auch nicht leicht. Sexualität ist ein großes Tabuthema.wir lernen weder in der Schule, noch im Alltag, offen darüber zu sprechen. Wenn ich schon sagen „lecken, ficken, blasen“, sehe ich große Münder und sehen es als Gossensprache. Das zeigt mir, es fehlen uns die Worte,damit neutral umzugehen und uns fehlt auch eine gewisse Offenheit. Ich erlebe bei Mitarbeitern in Einrichtungen, aber auch bei älteren eine große Zurückhaltung aber auch eine große Unwissenheit, dass ihre Kinder Sexualität haben können. Zudem müssen wir uns vor Augen halten, dass die Zeiten, wo der Sexualtrieb mit Medikamenten unterdrückt wurde, auch noch nicht so lange her ist. Beziehungsweise mache ich ein Fragezeichen daran, ob das nicht auch heute noch das eine oder andere Mal geschieht, dass andere über den Sexualtrieb entscheiden und ihn unterdrücken. Da wird oftmals nicht gefragt „was spürst du denn?“, „was ist denn mit warm und kalt? Was empfindest du gegenüber der Person? Hast du Schmetterlinge im Bauch?“ Oftmals fehlen uns die Begriffe und wir sollten kreativer mit dem Thema umgehen, oder davor Angst zu haben, dass man in einer Ecke gestellt wird, man würde übergriffig. Wenn man sagt „ich finde dich sympathisch – ich könnte mir vorstellen, mit dir Sex zu haben“- dann muss das ja nicht schlimm sein.es muss auch kein Übergriff sein. Ich glaube, das hat etwas mit unserer Gesellschaft zu tunund meine Wahrnehmung ist, dass wir eher noch einen Rollback haben, dass es noch sexualfeindlicher wird.es werden zwar im Moment viele Filme gezeigt mit dem ThemaBehinderung und Sexualität, was einen aufklärerischen Charakter hat – aber die Bestrebungen in der Gesellschaft, Sexualität aus dem Befreienden, Emanzipatorischen, Spielerischen herauszunehmen, finde ich tragisch. Das ist nicht nur in meinem Bereich als Sexarbeiterinnen so – sie wissen sicherlich, dass es Bestrebungen gibt, Prostitution zu verbieten – aber auch in Schulen, wenn es um Aufklärung und um Schwangerschaftsabbruch geht, ist die Entwicklung sehr bedenklich. Ich glaube trotzdem, man muss daran halten und man muss sich austauschen. Solche Veranstaltungen wie hier sind sehr wichtig – diskutieren und austauschen und… Scheiß drauf, was die Gesellschaft sagt.