Nach einiger Zeit der Pause erscheint endlich mal wieder ein neuer Blog-Post auf Kissability! Der Text entstand aus einem Interview, was im Rahmen eines Artikels in der Edition F zu “Touch Me Not“ geführt wurde. Leider sind unsere Beiträge nur zum Teil in den dortigen Artikel eingeflossen, aber ich nutze die Gelegenheit, das Original hier zu veröffentlichen 🙂
Braucht die Gesellschaft Sextherapie?
Chris: Ich finde den Begriff der Therapie in diesem
Zusammenhang nicht passend, denn er weckt Assoziationen zu Defiziten die
repariert werden müssten und ist negativ besetzt. Was aber wichtig ist, ist
dass wir als Gesellschaft offener und toleranter gegenüber der Vielfalt der
Sexualität werden, auch in ihren devianten Spielarten.
Grit: Natürliche Begegnung mit sich selbst und die
Kommunikation mit meinem Partner egal auf welcher Ebene, sind für mich in der
Partnerschaft immer ganz wichtig gewesen. Eine Gesellschaft, die sich das als
Anspruch stellt, trägt zu mehr Mitmenschlichkeit bei.
Warum lohnt es sich seine eigene Sexualität zu erkunden?
Grit: Die eigene Spannbreite meines sexuellen Ausdrucks und
meiner Erfahrung haben mir sehr viel über die Art und die Tiefe meines Wesens auch
im Annehmen und der Tiefe der Verbindung zu meinem Partner gezeigt.
Chris: Die eigene körperliche Wahrnehmung gehört zum Kern
jeder Persönlichkeit. Wir sind alle körperliche Wesen. Eine erfüllte Sexualität
ist dementsprechend eins der Grundbedürfnisse des Menschen, so wie Essen und
Sicherheit. Auf der anderen Seite ist das sexuelle Empfinden individuell sehr
unterschiedlich. Also muss man erstmal seinen eigenen Körper und sein Begehren
kennenlernen, um überhaupt Erfüllung erlangen zu können. Viele Menschen richten
sich aber nach gesellschaftlichen Narrativen und Normen aus, statt ihre eigenen
Gefühle kennenzulernen. Das führt oftmals zur Unterdrückung der eigenen
Bedürfnisse und damit verbunden zu Unglück und teilweise sogar Gewalt. Diese
Spirale zu durchbrechen und die Möglichkeit zu erkunden, ein selbstbestimmtes
und glückliches Leben auch im Bereich der Sexualität zu finden lohnt sich für
jeden Menschen.
Wie definieren wir Attraktivität?
Grit: Attraktivität hat für mich immer was sehr persönliches
gehabt, sie hat sich über die Zeit auch geändert. Es war für mich immer eine
Suche nach einem Partner, mit dem ich intellektuell sehr verwoben bin und der
ein gewisses Charisma besitzt, dass aber von guten Absichten geprägt ist. Ein
Partner mit dem man sich gut austauschen kann, ist quasi schon die
„dreiviertele Miete“ der Beziehung. Mit Christian empfinde ich mich in beidem
verbunden, sowohl die gemeinsame Auseinandersetzung mit unserer täglichen eigenen
Beziehung, als auch mit der Begegnung unserer Umgebung.
Chris: Intime Anziehung kann auf enorm vielen Facetten
basieren und was man als attraktiv empfindet, hängt von sehr vielen Faktoren
ab. Ich stehe sicherlich auf andere Eigenschaften und Merkmale, als mein
Nachbar, mein Postbote oder die Autorin dieses Textes. Unterm Strich kann man
es niemals jedem Recht machen und allen gefallen. Was so ernüchternd klingt hat
aber in Wahrheit etwas charmantes und positives: jeder Mensch hat nämlich auch
Eigenschaften, die attraktiv sind und auf andere Menschen anziehend wirken. In
dem man sich selbst kennenlernt und experimentiert, kann man diese
„herausputzen“. Es mag vielleicht wie ein Cliché klingen, aber letzten Endes
ist das genau der Grund, warum wahre Schönheit von innen kommt.
Es geht dabei nämlich nicht darum, seinen Körper zu
verleugnen, sondern ganz im Gegenteil, ihn zu erkennen und anzunehmen.
Was haben wir über uns und andere durch den Film (Touch Me Not) gelernt?
Grit: Für mich war es ein großer Schritt, zwischen meiner
ersten Begegnung mit Adina über Skype und dem Raum, wo ich mich jetzt befinde.
Eine sehr großer Erfahrungsschatz an menschlicher Verbindung und Austausch,
sexueller Vielfalt, eigener kommunikativer Ausdrucksmöglichkeiten und der sehr
tiefen Annahme meines Wesens seitens des Publikums haben mir es ermöglicht
jetzt in diesem Leben verankert zu sein. Und ich wünsche mir von Herzen, das so
eine Menschlichkeit geschaffen wird, indem jeder sich selbst erfahren kann und
wir die Offenheit besitzen, diese Vielfalt zu tragen.
Chris: In erster Linie war es eine super spannende und
bereichernde Erfahrung, bei einem solchen experimentellen und künstlerischen
Projekt beteiligt gewesen sein. Wir haben viele tolle Menschen kennengelernt
und viele intensive Beziehungen geknüpft. Durch die Arbeit mit den Tagebüchern
und die Reflexion mit Adina und den anderen Protagonisten konnte ich meine
Haltung zu den Themen des Films tiefer herausarbeiten und festigen. Etwas sehr
wichtiges habe ich aber auch durch das Publikum und die Medienöffentlichkeit
gelernt, nachdem der Film bekannt wurde: Das Thema “Intimität und
Körperlichkeit“ ist enorm wichtig und berührt viele Menschen in ihrem innersten
Kern. Das ist für viele oftmals nicht einfach. Gerade deswegen lohnt es sich
vielleicht genauer hinzuschauen.
Was ist unser Ratschlag an Leute, die ihre Sexualität
befreien wollen?
Chris: Meiner Meinung nach gibt es zwei große Kräfte, die
einen daran hindern, sexuelle Freiheit zu leben: zum einen ist da die Scham und
die Angst, nicht gut genug zu sein und beurteilt zu werden. Zum anderen gibt es
gesellschaftliche Normen und Zwänge, die es einem schwer machen, seine
Bedürfnisse und Sehnsüchte offen zu zeigen. Beide Kräfte sind schwer zu
überwinden, vor allen Dingen, weil sie so tief mit unserem Unterbewusstsein eingegraben sind. Ich
glaube, der erste Schritt sollte sein, die innere Scham anzuerkennen. Erst dann
kann man versuchen, über sie hinauszuwachsen, wenn man das möchte.
Grit: Follow your guts! Folge dem, wonach du dich sehnst….am
besten in allen Lebensbereichen. Fühle die Freiheit, die du dir erträumst.
Spüre deinen Körper!
Einen fruchtbaren Austausch mit Menschen, denen man
vertraut, fand ich immer wertvoll, da das die eigenen Schamgrenzen und Zwänge,
die wir durch unsere Umgebung aufgebaut haben, aufbrechen kann.
Oft stellt man im Nachhinein fest, dass die Beklemmungen und
Ängste gar nicht gerechtfertigt waren.