Festivals der Lust – Access Pleasure auf der Xplore?

Ein eindrucksreiches Wochenende verbrachten Grit und ich dieser Tage auf der Xplore, jenem Festival, das Körper, Kunst und Begierde miteinander verknüpft wie kaum ein anderes. Gleich hinter dem Pförtnerhaus lag der Hof, der Himmel war mit Wolken durchzogen und die Sinne voll leiser Erwartung – ein Geräusch aus Stimmen, Kopfsteinpflaster und sphärischen Tönen

Xplore gibt es seit 2004. Damals, in der Schwelle 7 im Berliner Wedding, war es ein Geheimtipp, kaum mehr als eine verwinkelte Werkstatt für Experimente. Die Tickets waren binnen Minuten ausverkauft. Wir waren 2014 und 2015 dort, bewegten uns zwischen alten Backsteinmauern, lernten fremde Hände kennen, wovon manche mittlerweile Freunde sind. Später, 2019, reisten wir nach Rom, sprachen über Behinderung und Sexualität, über „Touch Me Not“. 2022 folgte der Umzug in die Malzfabrik, ein Industriebau, der nach Getreide roch und Platz bot für mehr Menschen, mehr Laken, mehr Stimmen.

Jetzt also erneut Tempelhof. Das Festival ist gewachsen, größer, vielleicht lauter geworden. Die Malzfabrik zieht mit ihren hohen Fenstern das Licht hinein, aber auch die Fragen: Was geht dabei verloren, wenn Vertrautheit Platz macht für Raum? Wir atmeten tief ein – und gaben uns der nächsten Runde dieser Reise hin.

Xplore

Xplore nennt sich eine Spielwiese für Sexualität, BDSM, Körperarbeit, Tanz und Ritual. Künstlerinnen, Therapeuten und Aktivistinnen führen durch Workshops, Performances und Vorträge; jede Übung ist eine Einladung, den eigenen Körper neu zu betrachten. Manche Angebote wirken fast medizinisch, andere erinnern an Theaterproben oder stille Meditationen. Gemeinsam wollen sie Neugier wecken, Scham lösen, den Blick für Möglichkeiten öffnen.

Das Publikum ist eine bunte Menge aus allen Körperformen, Gendern und Lebenswegen. Man spürt Vertrauen, Freundlichkeit, Klarheit – als hätte jemand die Luft von Vorurteilen gereinigt. Wer hereinkommt, darf seine Lust zeigen, darf Fragen stellen, darf staunen. Darin liegt der Reiz von Xplore: Es schafft einen Raum, in dem Sexualität weder versteckt noch vorgeführt wird, sondern einfach anwesend sein darf, so selbstverständlich wie Atmen.

Wandel

Früher dauerte Xplore drei Tage, jeder für sich. Ich erinnere mich gerne daran, wie ich nackt auf einem Pferd saß oder an einen Workshop über Sterben und Tod. Zwischen den Räumen lagen offen Türen, man konnte sich treiben lassen und begegnete stets etwas Unerwartetem. Vielfalt war das Prinzip.

Heute gibt es zwei Vorbereitungstage und am Sonntag eine lange gemeinsame Play‑Party. Die Codes der Zustimmung werden zuvor geübt, dann verschmelzen die Übungen zu einem einzigen, rhythmischen Strom. Viele erleben darin ein neues Wir‑Gefühl; ich sehe auch, was verloren ging. Die alte Fülle an Stimmen, Themen, Zufällen – sie schrumpft, wenn alles auf einen Höhepunkt zielt.

Freiheit

Sexpositive Räume sind Freiheit. Menschen aller Körper – jung, alt, trainiert, weich, vernarbt – mischen sich, ohne Rangordnung. Niemand urteilt über einvernehmliche Lust. Berührungen, Nacktheit, Intimität geschehen selbstverständlich und sorgfältig zugleich, als gehörten sie zum Grundrauschen des Tages.

Für mich ist das ein Aufatmen. Im Alltag muss ich meine Sexualität oft erklären, mit Statistiken belegen, verteidigen. Hier ist sie einfach da. Mein Rollstuhl bleibt ein Detail; Freundliche Hände fragen, ob sie helfen dürfen, bringen mir Wasser, öffnen Wege. Vertrauen und Neugier halten das Gelände offen, als läge ein stilles Versprechen in der Luft: Du darfst sein, wie du bist, und alles, was dich freut, hat hier Platz.

Begegnungen

Der Workshop „Bad Romance“ gab uns Karten in die Hand: „Stolpere über deine Worte“, „Lobe den Pullover zu lang“, „Verwechsle den Namen“. Wir übten das Unbeholfene wie eine Choreografie, versanken in Peinlichkeiten und lachten, bis uns die Schultern zuckten. Aus der Lächerlichkeit wuchs ein unerwartetes Band; man fühlte, wie Scheu im Gelächter schmolz und Nähe entstand, gerade weil niemand glänzen musste.

Ein anderer Workshop beschäftigte sich mit Transformation. Wir lagen in kleinen Gruppen auf Matten, schlossen die Augen. Eine Person atmete, die anderen legten Hände auf Rücken, Schultern, Stirn. Die Körper wurden zu Resonanzräumen, in denen Atem, Wärme und Herzschlag kreisten. Als wir aufstanden, war etwas ver­rückt – leiser vielleicht, aber wärmer; fremde Energie ruhte in den Gelenken, und mancher wischte sich Tränen ab, ohne Scheu, weil alles dafür vorgesehen war.

Grenzen

Die Malzfabrik ist schöner als die Schwelle 7, aber weniger barrierefrei. Zwei Treppen hielten mich von einem Nebenraum fern, in dem Körper tanzten und Lachen aufbrandete. Beim Workshop „Bad Romance“ lag ich schließlich auf einer Matte am Rand; freundliche Arme halfen, doch ich blieb Zuschauer. Zugänglichkeit heißt mehr, als anwesend zu sein. Sie heißt teilhaben, das eigene Gewicht in die Szene werfen können.

Schwieriger noch war das Schweigen. Die meisten Übungen verlangten Blickkontakt, Gesten, Atem – kaum Worte. Für mich sind Wörter ein Werkzeug, so unverzichtbar wie die Reifen meines Stuhls. Ohne sie stockte der Kontakt, als fehlte eine Hälfte des Kreises. Schweigen kann ausschließen, so wie Treppen ausschließen. Beide Hindernisse sind gleich hoch, nur anders gebaut.

Seit der Umstellung liegt der Schwerpunkt fast ausschließlich auf Körperlichkeit, Bewegung, Tanz. Früher gab es neben Bondage und Atemarbeit auch Runden über Beziehungen, Konsens, Poly‑Ethik; Worte hatten Gewicht, Gedanken wurden hin‑ und hergereicht wie Schalen mit Wasser. Jetzt pulst der Bass, die Halle schwingt, Arme und Hüften zeichnen Muster in die Luft. Viele lieben das; sie reisen genau dafür an, und auch Grit blüht in den Tänzen auf, ihr Lachen fliegt über den Parkettboden. Doch ich, der mit Sprache glänzt, stehe im Halbdunkel. Mein Körper folgt einem langsameren Takt, meine Worte verhallen, bevor sie beginnen. In einem Raum, der vom Rhythmus lebt, bleibe ich eine leise Randnotiz.

Inklusion

Inklusion beginnt nicht mit Rampen, sondern mit Zeit. Crip Time nennt man sie: genug Raum, damit jeder seinen Rhythmus findet, ohne Uhr im Nacken. Dazu braucht es mehrere Sprachen – Körper, Stimme, Schrift. Wenn nur Muskeln reden dürfen, schweigen viele. Vor jeder Session sollte ein kleines Gespräch stehen: Was brauchst du, damit dein Körper atmen kann, dein Geist nicht taumelt? So einfach, so selten.

Wir müssen Reize filtern, Neurodiversität mitdenken, Rückzugsorte schaffen, in denen das Licht weich ist und niemand drängt. Barrierefreiheit heißt Aufzüge, klare Schilder, Gebärdensprache, stabiles WLAN. Nichts davon Luxus, alles Basis. Erst darauf wachsen die Wünsche: ein Dark Mode für müde Augen, ein Joystick für die Tanzfläche. Dann kommt die Freude – Access Pleasure. Der Moment, in dem Zugänglichkeit nicht nur funktioniert, sondern lächelt.

Geht man weiter, beginnt Access Play. Man baut Rampen wie Spielzeug, erfindet neue Regeln, tauscht Rollen – wer hilft wem, wer wird gehalten? So wird Barrierefreiheit zum Experiment, körperliche Lust zum Labor. Bedürfnisse beenden Schmerz, Wünsche nähren Visionen, Freude belohnt den Weg, Spiel schreibt die Landkarte neu. Erst wenn all das zusammenklingt, leuchtet jeder Körper, auch meiner.

Sexuelle Lust ist die Blüte, Access Pleasure der Boden, aus dem sie wächst. Erst wenn Räume, Technik und Körper einander bedingungslos Zugang gewähren, öffnet sich das Spiel: Eine Rampe wird zur Einladung, ein Gebärden‑Dolmetscher zum Liebesbrief, ein Joystick zum vertrauten Requisit. Was als barrierefreies Detail begann, resoniert in jeder Berührung, jeder Bewegung; Access Play und erotisches Spiel klingen wie zwei Saiten, die im selben Akkord schwingen – und das Ergebnis ist ein einziger, ungetrennter Klang von Freude.

Weiter

Vielleicht sollten wir selbst ein Festival erfinden, eines, das Barrierefreiheit nicht als Rubrik führt, sondern als Duft, der überall haftet. Kein Schonraum für Behinderte, kein pädagogischer Zaun, sondern ein Markt der Fähigkeiten: Rampen neben Tanzflächen, Dolmetscher zwischen Bassboxen, Dialog und Schweiß in derselben Hitze. Diversität, Zustimmung, Kreativität – alle Körper, alle Sprachen, ein gemeinsames Spiel.

Ich suche Verbündete. Bis dahin fahre ich weiter zu sex-positiven Räumen und Festivals, die bereits existieren. Ich lerne dort, genieße, kritisiere. Ich warte auf den Tag, an dem Lust und Zugänglichkeit nicht mehr kollidieren, sondern wie zwei Ströme zusammenlaufen und aus dem gleichen Licht glänzen.

Liebe erzählt – Wie geht Beziehung? Podcast mit Grit und mir in der ARD Audiothek

Vor anderthalb Jahren stand ein Mikro zwischen Grit und mir, während wir mit Autorin Leila Knüppel über all die Fragen sprachen, die sonst oft hinter geflüsterten Vorhängen verschwinden: Sexualität und Behinderung, Körperbilder, Fetische, Assistenz – und natürlich Liebe. Heute ist das Ergebnis in der ARD Audiothek gelandet, Folge 4 des SWR-Podcasts „Liebe erzählt – wie geht Beziehung?“. Endlich kann jeder hören, wie warm, chaotisch und manchmal urkomisch dieses Gespräch wirklich war.

Eine Leinwand in Venedig – der erste Funke

Leila erzählt gleich zu Beginn, wie sie uns das allererste Mal gesehen hat: nicht im echten Leben, sondern nackt und auf einer riesigen Leinwand bei der Biennale in Venedig. „Ich konnte sehen, wie die beiden sich einfach so, wie sie waren, angenommen haben – nackt, verletzlich und dabei unglaublich stark“, sagt sie im Podcast. Dass gerade diese Szene einer Frau zeigte, dass Beziehung auch anders, zärtlicher, möglich ist, rührt mich noch immer.

„Ich dachte, ich finde nie eine Freundin“

Im Studio blättere ich zurück in meine Teenager-Jahre: Ein schmächtiger Körper, spinale Muskelatrophie und die feste Überzeugung, dass Liebe für mich irgendwo hinter einer unüberwindbaren Stufe wartet. „Als Teenager dachte ich, ich würde nie eine Freundin finden“, gestehe ich im Mikrofon. Dass genau dieses Statement heute von Grits Lachen übertönt wird, ist für mich der stärkste Beweis, dass Vorurteile oft nur Schutzbehauptungen sind – auch die eigenen.

Kennenlernen ohne Umwege

Unsere Liebesgeschichte beginnt auf einer Geburtstagsfeier eines gemeinsamen Freundes. Grit wusste schon einiges über den „interessanten Typ im Rollstuhl“. Als sie mich endlich live sah, war ihr erster Gedanke nicht Mitleid, sondern: „Schön ist er.“ Wir verabreden uns, ­ein Date – und zack, ein Paar. Keine Spielchen, keine Umwege. Dass so etwas möglich ist, hören viele zum ersten Mal und fragen sofort: „Und wie geht das mit Intimität?“

Intimität jenseits von Klischees

Im Podcast gehen wir offen in die Details. Grit erzählt, wie erstaunlich normal Sex sein kann, wenn man aufhört, den Rollstuhl als dritte Person im Bett zu betrachten. Ich erkläre, wie Assistenz zwar Teil unseres Alltags ist. Gerade diese Passagen ließen beim Abhören noch einmal Luft an Themen, die wir sonst selten laut aussprechen.

Mitleid? Lieber Kreativität !

„Die Leute sagen oft: Ach, das ist bestimmt schwer…“ erzählt Grit. Ihr Ton verrät, wie sehr uns solche Reaktionen nerven. Denn natürlich ist es manchmal kompliziert. Aber „im besten Fall ist es ein kreativer Umgang damit“ – so formuliere ich es im Podcast, weil es genau das ist: permanentes Improvisieren, nicht Schwere schleppen.

Warum du reinhören solltest

Wenn du wissen willst, wie Beziehungen klingen, in denen Behinderung weder Tragödie noch Heldengeschichte ist, sondern einfach Teil des ganz normalen Durcheinanders zweier Menschen, dann nimm dir 25 Minuten und hör rein. Vielleicht weckt es Fragen, vielleicht schenkt es Mut oder einfach ein paar gute Zitate für die nächste WG-Küchenrunde.

Hier geht’s direkt zur Folge: https://www.ardaudiothek.de/episode/liebe-erzaehlt-wie-geht-beziehung/christian-und-grit-4-5/swr-kultur/14537451/

Die Sprache der Berührung – Über Nähe, Assistenz und Selbstbestimmung

Persönliche Assistenz ist für mich viel mehr als ein Job – sie ist ein Ritual, eine Notwendigkeit, ein unaufhaltsames Band zwischen mir und der Welt. Es geht nicht nur um pragmatische Hilfe, sondern um eine Symbiose, eine unausweichliche Verbindung von Vertrauen, Körperlichkeit und unausgesprochenem Verstehen.

Mein Leben ist ein Spiel aus Kreativität, Reisen und Abenteuern. Es ist von Berührung geprägt, von Intensität und einer beständigen Suche nach Tiefe. In meinen künstlerischen Projekten – „Touch Me Not“, „Cathedral of the Body“ und „Army of Love“ – werden diese Aspekte greifbar. Sie sind keine bloßen Werke, sondern Manifestationen einer Welt, in der Nähe, Vertrauen und Assistenz sich zu einem untrennbaren Gewebe verdichten. Sie stellen Fragen, sie provozieren, sie erfordern Mut.

Meine Assistent*innen sind keine stummen Schatten, keine bloßen Erleichterungen meines Alltags. Sie sind Mitgestaltende, manchmal Spiegel, manchmal Kontraste. Sie ermöglichen mir nicht nur Mobilität, sondern den vollen Ausdruck meiner Ideen. In den Stunden, in denen wir zusammen sind, entstehen Verbindungen – subtile und intensive, physische und emotionale. Assistenz ist für mich kein Dienstleistungsverhältnis, sondern eine Balance zwischen Hingabe und Eigenständigkeit, zwischen Kontrolle und Vertrauen.

Das Leben in Blockdiensten, in denen meine Assistent*innen oft über 24 Stunden an meiner Seite sind, schafft eine ungewöhnliche Vertrautheit. Hier gibt es keine künstliche Distanz, keine leeren Formalitäten. Jede Handlung, jede Geste trägt Bedeutung, ein unausgesprochenes Wissen um das, was notwendig ist. Manche empfinden dies als Tabu, doch ich sehe darin das Wesen wahrer Begegnung.

Ich weiß, dass meine Vorstellung von Assistenz nicht universell ist. Viele Menschen ziehen professionelle Distanz vor, schätzen eine klare Abgrenzung zwischen sich und denen, die sie unterstützen. Ich ehre diese Wahl. Doch meine Welt ist eine andere. Sie ist geprägt von Offenheit, von dem Wunsch, Grenzen zu erkunden und Konventionen infrage zu stellen – und von der tiefen, verlässlichen Verbindung zu einem Menschen, der diesen Weg mit mir geht. Es gibt keine Schablone, kein „richtig“ oder „falsch“.

Ich lebe offen und frei in meiner Identität und meinen Beziehungen. Vielfältige Formen von Nähe und Verbundenheit spielen für mich eine wichtige Rolle. Gleichzeitig bin ich in einer langjährigen, tief erfüllenden Beziehung, die von Vertrauen und Offenheit geprägt ist. Das ist kein Detail, kein beiläufiges Merkmal meines Daseins, sondern ein Fundament, das meine Sicht auf Assistenz prägt. Hingabe ist für mich keine Pflicht, sondern eine Entscheidung, die aus Vertrauen erwächst. Sie ist das Gleichgewicht zwischen dem Geben und Empfangen, dem Dienen und dem Fordern.

Assistenz ist für mich der Raum, in dem die Essenz menschlicher Verbindung erforscht wird. Sie ist keine Einbahnstraße, sondern eine wechselseitige Verbindung, die auf tiefstem Vertrauen basiert. Sei es emotionale oder körperliche Nähe – beides hat seinen Platz, solange es im Einklang mit den Bedürfnissen und Grenzen beider Seiten steht. Hingabe bedeutet nicht Selbstaufgabe, sondern ein bewusstes, poetisches Miteinander.

Meine Assistent*innen sind Teil dieses Weges. Sie wagen sich hinein in eine Arbeit, die von Tiefe und Reflexion geprägt ist, von schönen und herausfordernden Momenten gleichermaßen. Sie haben den Mut, sich auf eine persönliche und intensive Zusammenarbeit einzulassen. Vielleicht findest du dich darin wieder. Vielleicht nicht. Beides ist in Ordnung.

Denn am Ende bleibt dies: Ich bin, wie ich bin. Und ich suche nicht nach Anpassung, sondern nach Menschen, die bereit sind, mit mir diese ungewöhnliche Reise zu teilen.

Filmreview: „Good Bad Things“

Grit und ich haben heute Good Bad Things gesehen, der dieses Wochenende als Streaming-Event auf der Plattform Veeps zu sehen war. Der Film hat mich stark berührt. Regisseur Shane Stanger greift darin die Themen Liebe, Behinderung und Männlichkeit auf und erzählt die Geschichte von Danny, einem Unternehmer mit Muskeldystrophie, der sich den Herausforderungen von Freundschaft, Online-Dating und Selbstakzeptanz stellt. Der Film reduziert Danny nicht auf seine Behinderung und vermeidet das übliche „tragischer Held“-Klischee. Stattdessen zeigt er das vielschichtige Leben eines Mannes mit Höhen und Tiefen, Zweifeln, Erfolgen und Intimität.

Für mich war der Film auf vielen Ebenen nachvollziehbar. Genau wie Danny lebe ich mit einer neuromuskulären Erkrankung und erkenne mich in seinen emotionalen Kämpfen um Verletzlichkeit und die Angst vor Ablehnung wieder. Good Bad Things fängt diese Angst und die Komplexität, eine Behinderung in einer Beziehung zu offenbaren, sehr authentisch ein. Es beschönigt nichts, definiert Danny aber auch nicht nur über seine Behinderung. Seine vorsichtige, aber transformative Beziehung zu Madi, einer Fotografin, erinnerte mich an meine eigene Beziehung zu Grit. Auch wir setzen uns in unseren künstlerischen Projekten mit den Themen Verletzlichkeit und Schönheit auseinander und bewegen uns in ähnlicher Weise im Spannungsfeld zwischen Intimität und Behinderung.

Besonders beeindruckt hat mich, wie der Film das Thema Männlichkeit darstellt. Danny ist kein typischer „harter Kerl“, sondern die Geschichte zeigt seine emotionale Verletzlichkeit als Stärke. Diese neue Sicht auf Männlichkeit ist erfrischend, besonders in Verbindung mit einer Behinderung. Der Film bricht mit traditionellen Vorstellungen davon, was es heißt, ein Mann zu sein, und betont, dass Emotionen zu zeigen und sich auf andere zu verlassen keine Schwäche ist, sondern Teil des Menschseins.

Auch die Beziehung zwischen Danny und seinem besten Freund Jason wirkte auf mich sehr authentisch. Ihre Freundschaft, die auf gegenseitiger Unterstützung und Gleichberechtigung basiert, erinnerte mich daran, wie Grit und ich unsere Partnerschaft, sowohl privat als auch beruflich, gestalten. Der Film vermeidet es, Jason als den „Retter“ darzustellen, was oft ein Fallstrick in solchen Geschichten ist. Stattdessen unterstützen sich beide Figuren auf Augenhöhe, was ich sehr schätze.

Am kraftvollsten fand ich, wie Dannys Beziehung zu Madi zu einem Wendepunkt für ihn wird. Sie hilft ihm, seinen Körper in einem neuen Licht zu sehen – nicht als Hindernis, sondern als etwas, das Liebe und Verbindung verdient. Dieser Prozess, sich durch die Augen eines Menschen, der einen wirklich annimmt, neu zu sehen, ist mir sehr vertraut. Grit und ich haben in unserer Beziehung einen ähnlichen Raum geschaffen, in dem wir uns gegenseitig herausfordern und unterstützen, die Teile von uns zu akzeptieren, die wir vielleicht sonst schwer annehmen könnten.

Der Film spricht auch ein Thema an, das mir besonders wichtig ist: Repräsentation. Es ist selten, einen Protagonisten mit einer Behinderung in einer so vielschichtigen Rolle zu sehen, insbesondere im romantischen Kontext. Dannys Geschichte dreht sich nicht darum, seine Behinderung zu überwinden, sondern darum, voll und ganz mit ihr zu leben – etwas, das auch meine eigene Erfahrung widerspiegelt. Filme wie Good Bad Things und Touch Me Not, mit denen Grit und ich uns künstlerisch auseinandergesetzt haben, stellen die gängigen Narrative über Behinderung infrage. Sie zeigen, dass Menschen mit Behinderungen fähig sind zu lieben, zu begehren und Intimität zu erleben und nehmen dabei ihre eigene Körperlichkeit wieder in Besitz – in einer Welt, die uns oft marginalisiert.

Letztendlich ist Good Bad Things ein Spiegel meiner eigenen Reise: die Akzeptanz meines Körpers, die Neudefinition von Männlichkeit und Intimität nach meinen eigenen Maßstäben. Der Film erinnert daran, dass auch unsere Geschichten, in all ihrer Komplexität, authentisch erzählt werden müssen. Menschen mit Behinderungen verdienen es, glücklich zu sein, und ihre Geschichten verdienen es, gehört zu werden.

Lecture Series: Care, Disability and Art

Veranstaltung zum Thema Behinderung und Kunst mit Gespräch zu „Touch Me Not – Poetics and Politics of the Body“

Ich habe die großartige Gelegenheit, Grit Uhlemann und die Filmemacherin Adina Pintilie zu einer Diskussion über „Touch Me Not: Poetics and Politics of Intimacy“ in einem Vortrag zu begleiten, der von der Forschungsgruppe „Rethinking Art History through Disability“ am Institut für Kunstgeschichte organisiert wird. Universität Zürich und den Master Fine Arts an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK.

Grit und ich spielten eine wichtige Rolle in diesem unglaublichen Projekt, bei dem wir unsere eigene Sexualität offen diskutierten und erforschten und gesellschaftliche Normen und Stereotypen herausforderten. Wir hoffen, dass unsere Verletzlichkeit und Bereitschaft, diese Erfahrungen vor der Kamera zu teilen, dazu beigetragen hat, marginalisierte Körper zu stärken und falsche Vorstellungen von Behinderung und Sexualität zu hinterfragen.

Das Institutskolloquium / Pool FS23: Ringvorlesung: Pflege, Behinderung und Kunst beschäftigt sich mit der Repräsentation des menschlichen Körpers in der Kunst und der Problematik, Behinderung als soziales und kulturelles Konstrukt zu definieren. Diese Veranstaltung ist Teil der Vortragsreihe und bietet die Möglichkeit, über den Körper als Mittel zur Verarbeitung erkannter und unerkannter Geschichte, Traumata und Sehnsüchte nachzudenken und dazu anzuregen, unsere Verbindung zu den Körpern anderer und zu unseren eigenen in den Mittelpunkt zu stellen Zentrum unseres persönlichen und politischen Lebens.

Die Veranstaltung findet am 11. Mai 2023 an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK, Pfingstweidstrasse 96, 8005 Zürich, Raum Kino Toni ZT 3.G02 statt und wird auch live gestreamt. Adina Pintilie, Grit Uhlemann und ich sind die Hauptredner. Adinas plattformübergreifende Recherche zur Politik und Poetik von Intimität und Körper, einschließlich ihres Spielfilms Touch Me Not, gewann den Goldenen Bären auf der Berlinale 2018 und wurde weit verbreitet bekannt für seine grenzüberschreitende Sprache und Ästhetik.

Als Aktivist für die Rechte behinderter Menschen interessiere ich mich für die Kraft der Kunst, Perspektiven zu verändern und Normen in Frage zu stellen. Das Hinterfragen von Normen im Zusammenhang mit Behinderungen und die Stärkung ausgegrenzter Körperschaften ist ein entscheidender Schritt zur Schaffung einer integrativeren Gesellschaft. Indem wir anerkennen, dass Menschen mit Behinderungen einzigartige Stärken und Fähigkeiten haben, können wir sie befähigen, ein erfülltes Leben zu führen und einen sinnvollen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten.

Ein weiterer Bereich, in dem es wichtig ist, Normen in Frage zu stellen, ist die Auseinandersetzung mit Stereotypen und Missverständnissen in Bezug auf Sexualität und Behinderung. Leider glauben viele Menschen immer noch, dass Menschen mit Behinderungen asexuell sind oder ihnen der Wunsch nach Intimität und sexueller Erfüllung fehlt. Indem wir diese Normen in Frage stellen und uns für die Stärkung marginalisierter Körperschaften einsetzen, können wir eine integrativere und akzeptierendere Gesellschaft schaffen, die die vielfältigen Erfahrungen und Perspektiven aller Individuen wertschätzt.

In „Politics of the Body“ nutzen Grit und ich die Plattform weiterhin, um uns für die Rechte marginalisierter Gemeinschaften einzusetzen. Durch unsere Arbeit als Aktivisten und Künstler haben wir dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der körperlichen Autonomie und die Notwendigkeit einer stärkeren Inklusion und Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen zu lenken.

Nehmen Sie an dieser spannenden Veranstaltung teil, um die Darstellung des menschlichen Körpers über alle Epochen und Kulturen hinweg sowie das grundlegende Medium der Kunstproduktion und -rezeption zu erkunden. Ich glaube, dass die Veranstaltung uns eine Plattform bieten wird, um darüber nachzudenken, wie wichtig es ist, den Körper und seine historisch konstruierte Einheit, insbesondere im Hinblick auf funktionale Vielfalt, innerhalb der kunsthistorischen Forschung neu zu denken.

Rollirotik – der Podcast zu Sexualität und Behinderung

Darf ein behinderter Körper sexy sein?
Wie gefährlich sind Devs wirklich?
Wie erlebt man Sexualität in einer interablen Beziehung?

Ich, Anna, beleuchte als Devotine zusammen mit Kjell, der eine Körperbehinderung hat, im neuen Podcast Rollirotik das Thema Sexualität und Behinderung: unverblümt und mit Fokus auf all den Dingen, die sonst hinter verschlossenen Türen bleiben. Für alle, die lieber zuhören statt lange Texte zu lesen und für alle, die ein wenig mehr wissen wollen, als es angebracht wäre zu fragen.

Im Podcast sprechen wir über unsere ganz persönlichen Erfahrungen, über Leidenschaft, Tabu-Brüche und die praktischen Aspekte von interablen Beziehungen. Und wir sprechen mit euch! Sagt uns, was euch besonders interessiert und welche Fragen ihr schon immer mal stellen wolltet.

Webseite

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„Besonders Verliebt“: VOX plant Datingsendung mit Menschen mit Behinderung

VOX hat sich in Kooperation mit Handicap Love vom britischen Fernsehen inspirieren lassen. Dort läuft seit einigen Jahren (offenbar relativ erfolgreich) die Sendung „The Undateables“. Singles mit Behinderung treffen vor laufender Kamera andere Singles, um einen passenden Partner zu finden. Mal ganz abgesehen vom Namen der Sendung (der im Deutschen immerhin ein kleines bisschen Würde bewahrt), erscheint mir das Konzept alles andere als inklusiv.

Im Moment werden dafür Teilnehmer mit Behinderung gesucht. Immerhin gibt man sich Mühe, dem beinahe sicheren Abrutschen in die Inspiration-Porn- und Sensationsschiene etwas entgegenzuwirken. Dazu wird im Aufruf versichert, dass niemand vorgeführt oder blamiert werden soll, sondern dass der Schwerpunkt darauf liegt, „auf einfühlsame Weise für mehr Toleranz und Akzeptanz gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen“ zu werben. Ob das gelingt und wie das Konzept umgesetzt wird, können die Zuschauer ab September 2021 herausfinden.

Passende Singles für die Teilnehmer werden derzeit über Handicap Love, die größte und bekannteste Singlebörse für Menschen mit Behinderung im deutschsprachigen Raum, gesucht. Da sehe ich die erste Problematik: Nach dem „Gleich und gleich gesellt sich gern“-Prinzip erfolgt die Suche auf einer Plattform, die vor allem von Menschen mit Behinderung frequentiert wird. Schade, dass eine Sendung, die vermutlich einen relativ großen Zuschauerkreis erreichen wird, sich in dieser Hinsicht bereits im Voraus positioniert. Soweit ich erkennen kann, ist nicht klar formuliert, dass potentielle Partner auch eine Behinderung haben sollten. In der Handicap Love-Bubble ist das jedoch für die meisten Mitglieder der Fall. Vielleicht wird ja auch auf anderen Wegen gesucht, ich würde es mir jedenfalls wünschen und bin auf die Reaktionen zur Sendung gespannt.

Eine Beziehung für die ganze Welt: Partnerschaften von Menschen mit und ohne Behinderung auf Social Media

Paare, bei denen einer der Partner eine sichtbare Behinderung hat, ziehen Blicke auf sich. Im Internet sind sie Klickgarant. Einige dieser Paare präsentieren ihr gemeinsames Leben online und versuchen so, Bewusstsein zu schaffen für eine eigentlich ganz alltägliche Sache.


Vielleicht liegt es in der menschlichen Natur, das außerhalb des eigenen Erfahrungshorizonts Liegende seltsam spannend zu finden: das Ungewöhnliche, Exotische und eben auch Menschen, die auf den ersten Blick nicht in die breite Masse passen. Wenn Menschen mit Behinderung auf sozialen Medien von ihren Erfahrungen berichten, kann das ein Türöffner sein, eine Einladung, in eine sonst unbekannte Welt einzutauchen. Es ist aber auch eine Welt, von der häufig Vorurteile und vorgefertigte Meinungen existieren und die es in den Köpfen der Menschen vielleicht irgendwo gibt, aber die um Himmels Willen keine Berührungspunkte mit der eigenen haben soll.

Auch ohne den zusätzlichen Faktor der romantischen Beziehung zeigen YouTuber, wie man mit Humor und Leichtigkeit, aber auch mit Ernsthaftigkeit, diese Grenzen überwindet. Berühmte deutschsprachige Beispiele aus den letzten Jahren, die schnell eine große Zahl Follower und Klicks erlangten, sind Gewitter im Kopf, die auf witzige Art über das Tourette-Syndrom aufklären, und Leeroy Matata, der viele verschiedene Menschen mit interessanten Geschichten interviewt und seine eigene Behinderung dabei ganz ohne Anstrengung in den Hintergrund rückt.

Wenn zur Behinderung allerdings noch der Gedanke an Beziehung und Sexualität kommt, wird das Spannende zum wirklich Ungesagten, zu etwas, das manchmal als das letzte Tabu bezeichnet wird. Dem stellen sich YouTuber entgegnen, öffnen ihr privates (Beziehungs-)Leben und schaffen so eine neue Welt. Eine Welt mit viel Potenzial, aber auch mit viel Ablehnung und Kampf.

Shane und Hannah (als Squirmy and Grubs) sind das derzeit wohl bekannteste „interabled couple“ auf YouTube. Über 750.000 Abonnenten interessieren sich für den Alltag der beiden. Aber auch andere Paare haben erfolgreiche Kanäle, zum Beispiel Cole und Charisma und das Sign Duo. Im deutschen Sprachraum gehören Brittlebonesking dazu. Was die Paare eint: Eigentlich lebt niemand von ihnen einen sonderlich ungewöhnlichen Alltag. Sie reden übers Kochen, über Ausflüge und Urlaube, übers Heiraten, übers Kinderkriegen. Das Ungewöhnliche ist die öffentliche Präsentation. Und dass es sicher immer noch Menschen gibt, für die es nicht vorstellbar ist, wie Behinderung und Sexualität zu vereinen sind.

Vor vielen Jahren schrieb Raul Krauthausen einmal: „Wenn ich so durch die Stadt fahre und behinderte Menschen Arm in Arm mit Nichtbehinderten sehe, dann fällt mir immer wieder auf, dass es meist die Frau ist, die ein Handicap hat.“ Davon kann inzwischen keine Rede mehr sein: Bei allen erwähnten Paaren ist es der Mann, der eine Behinderung hat. (Ein Kanal einer Frau mit Behinderung zum Thema, der mehr Aufmerksamkeit verdient hat, ist Finding Ren.) Dass diese Männer dann ihre Beziehung mit einer klassisch attraktiven Frau zeigen, ist für einige Zuschauer sicher ein weiterer Überraschungsmoment.

Dennoch: der Ruhm und das noble Ziel, Bewusstsein zu schaffen, haben auch ihre Kehrseiten. Social Media bietet den typischen Internet-Schutz für Konsumenten: Hier kann man ungeniert und unerkannt starren. Hier kann man anonyme Kommentare verfassen und Dinge loswerden, die man von Angesicht zu Angesicht nie sagen würde. Gerade bei Squirmy and Grubs gibt es eine ganze Szene, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die beiden als Fakes zu entlarven und Verschwörungstheorien zu verbreiten, weshalb eine so attraktive Frau auf keinen Fall einen Mann mit Behinderung lieben kann.

Paare, in denen ein Partner eine Behinderung hat, betreten auf Social Media Neuland. Vor allem für die Gesellschaft, aber auch für ein Genre, das sich langsam einen Platz erarbeitet. Sie setzen ein Zeichen für alle Menschen, die in einer solchen Beziehung leben, und für deren Umfeld: dass das Unbekannte und Ungedachte so greifbar und alltäglich sein kann.

Wie viele Amelos gibt es? – Der Versuch einer Annäherung mangels wissenschaftlicher Evidenz

Die Grundlage zu diesem Text habe ich zuerst in einem Forum veröffentlicht, in dem die Frage aufgekommen ist, wie viele Menschen es wohl gibt, die man als Amelos/Amelinen bezeichnen kann. Die Bezeichnung Amelo verwende ich hier für Personen mit einer sexuellen Vorliebe für Menschen mit Behinderung (synonym zu dem bei Kissability sonst häufig verwendeten Wort Devotine). Dieser Begriff ist im deutschen Sprachraum inzwischen nicht mehr nur auf die Vorliebe für Menschen mit Amputationen beschränkt, auch wenn die etymologische Perspektive darauf hindeutet.


Wenn man einschlägige Webseiten befragt, sind Amelos kein seltenes Phänomen. Als Mensch mit Behinderung trifft man immer mal auf sie. Meist im Internet unter angenehmen oder nervigen Vorzeichen, manchmal aber auch in der unangenehmen Form von Bildersammlern oder Voyeuren im echten Leben. Wie viel Prozent der Bevölkerung aber tatsächlich diese Vorliebe hat, ist eine sowohl interessante als auch meines Wissens unzureichend geklärte Frage.

Mich beschäftigt die Frage schon seit Jahren. Weniger, weil ich unbedingt wissen möchte, wie viel Seltenheitswert mir nun zugesprochen werden kann, sondern eher, weil mir die Frage danach so häufig begegnet. Sie ist mir vor allem von Menschen mit Behinderung gestellt worden, vermutlich aus unterschiedlichen Gründen (ob man nun wissen will, wie hoch die Chancen sind, eine/n von uns als Partner zu finden oder eben zu vermeiden).

Es gibt ein paar mehr oder weniger wissenschaftlich fundierte Untersuchungen zum Amelotatismus. Im deutschen Sprachraum ist da vor allem die Arbeit von Ilse Martin zu nennen, die die Neigung als „Mancophilie“ bezeichnet und darüber ein Buch veröffentlicht hat. Darin spricht sie von einer „wahrscheinlich[en …] Inzidenz von 1:1000“ (Martin 2014: 25). Es ist leider nicht ganz klar ersichtlich, woher die Zahl stammt. Alle in diesem Buch zitierten Studien waren auf die Befragung von Betroffenen beschränkt, teilweise gibt es auch Einzelfallstudien.

Der einzige andere Anhaltspunkt, der aus nicht-wissenschaftlicher Perspektive bleibt, ist anekdotische Hochrechnung.

Das größte mir bekannte Forum für weibliche hetero-/bisexuelle und männliche homosexuelle Amelos hat im Moment (Mai 2020) ca. 2500 Mitglieder. Vermutlich sind ca. 1000 bis 1500 davon Amelinen (der Rest sind Männer mit Behinderung). Dieses Forum ist zwar auf die englischsprachige Bevölkerung begrenzt, hat aber Mitglieder aus der ganzen Welt. Zur Hochrechnung: 330 Millionen Menschen auf der Welt sprechen Englisch als Muttersprache, 600 Millionen Menschen haben Englisch als erste Fremdsprache gelernt. Gehen wir also davon aus, dass gut eine Milliarde Menschen die sprachlichen Voraussetzungen für das Forum erfüllt. Circa die Hälfte davon sind heterosexuelle Frauen bzw. homosexuelle Männer, also eine halben Milliarde Menschen. Das entspricht einem Prozentsatz von 0,0003% (1500 von einer halben Milliarde). Diese Zahl ist jedoch zu niedrig, da es weitere ausschlaggebende Faktoren gibt. Die 1500 Amelos und Amelinen haben u.a. folgende Gemeinsamkeiten:

  • mindestens 18 Jahre alt,
  • Internetzugang,
  • Interesse am Austausch mit anderen Betroffenen,
  • die Selbsterkenntnis, dass man diese sexuelle Orientierung/Neigung hat,
  • der Wille, sich damit auseinanderzusetzen

Diese Faktoren sind leider nicht bezifferbar; man muss also schätzen. Wenn wir den oben genannten Prozentsatz vertausendfachen (d.h. 1 von 1000 existierenden Amelinen ist im Forum angemeldet) wären wir bei 0,3% Prozent.

Das ist natürlich keine wissenschaftliche Argumentation, sondern dient nur dazu, zu zeigen, dass es sehr wenige Amelos gibt. Was ich hier nicht beachtet habe, ist das oft zu findende Argument, dass es mehr männliche als weibliche Amelos gibt. Das ist eine weitere unzureichend geklärte Frage und vielleicht Thema für einen zukünftigen Text.

Zum Schluss noch eine anekdotische Betrachtung zur Ausgangsfrage: Ich bin schon seit einigen Jahren im Netz zu den Themen Dating und Sexualität unterwegs, häufig direkt als Ameline erkennbar. Aus der Stadt, in der ich in den vergangenen Jahren gewohnt habe und die etwas weniger als 600.000 Einwohner hat, habe ich in dieser Zeit zwei Menschen online kennen gelernt, die sich auch als Amelo identifiziert haben (was, zusammen mit mir, übrigens einem Wert von 0,0005% entspricht, ziemlich nah an dem oben berechneten Wert).

Auch andere Erfahrungen zeigt mir, dass es gar nicht so viele Amelos gibt, wie man zunächst annehmen könnte. Ich spreche immer mal mit Menschen mit Behinderung und frage, ob sie in ihrem bisherigen Leben jemanden kennen gelernt haben, von dem sie wissen, dass derjenige Amelo oder Ameline ist. Viele ahnen es vielleicht bei dem ein oder anderen, haben aber konkret nur dann Amelos kennen gelernt, wenn sie im Netz danach gesucht haben bzw. dort kontaktiert wurden.

Schließlich zeigt auch der Mangel an wissenschaftlichen Betrachtungen zum Thema, dass es weder ein häufiges Phänomen ist, noch eines, das erhöhter medizinischer Aufmerksamkeit bedarf. Ich fände vor allem Studien interessant, die den sozialen und gesellschaftlichen Aspekt des Amelotatismus beleuchten. Dafür gibt es mit den erwähnten empirischen Studien (nicht zuletzt mit der von Ilse Martin durchgeführten Befragung) zumindest Ansatzpunkte, die eine interessante Grundlage für weitere Forschung bilden.


Martin, Ilse (2014). Mancophilie: Zur Vollkommenheit fehlt nur ein Mangel. Homo-Mancus-Verlag, Maintal

Amelotatismus: Das Begehren nach Menschen mit körperlicher Behinderung

„Anna* fühlt sich von Männern mit Behinderung angezogen. Stefanie*, die eine körperliche Behinderung hat, war mit Männern zusammen, die genau das begehrten. Eine Geschichte von zwei Frauen auf der Suche nach sexueller Erfüllung“ schreibt Konrad Wolf, studierter Theaterregisseur sowie freier Autor im Online-Magaqin ze.tt. Sowohl in seinen Regiearbeiten als auch in seinem Schreiben ist er angetrieben durch den Wunsch, Menschen mit Behinderung sichtbar und hörbar zu machen.

Er meint „Sowohl Amelotatist*innen als auch behinderte Menschen machen in ihrem Leben die Erfahrung, von der Norm abzuweichen – die einen in ihrem Begehren, die anderen durch ihre Körperlichkeit. Das ist etwas, das sie verbindet und füreinander gegenseitig anziehend machen kann.“. Den können wir uns nur anschließen. Insgesamt ein toller Artikel über andersartige Sexualität mit einem positiven Blickwinkel.

Den gesamten Text findet ihr hier: